Herr Malak, Sie sind niedergelassener Orthopäde und haben die Nase von der deutschen Gesundheitspolitik gestrichen voll. Warum?
Ali Malak: Ich bin vor 27 Jahren nach Deutschland gekommen, um Patienten vernünftig behandeln zu können. Ich hatte hohe Erwartungen an das Land, das zu den reichsten der Welt gehört. Ich dachte, dass die medizinische Versorgung dem angemessen ist. Ich habe aber nach und nach feststellen müssen, dass das deutsche Gesundheitssystem krank ist. Mir wird vorgeschrieben, wie und wie oft ich die Patienten behandele und was ich ihnen verschreiben darf. Ich muss das tun, was wirtschaftlich gut für das Gesundheitssystem ist, das ist aber nicht immer das Beste für meine Patienten. Ich bin frustriert und abgenervt, und es geht nicht nur vielen meiner Kolleginnen und Kollegen ganz genauso, sondern auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Patienten.
Ist die Gesundheitsversorgung in Deutschland nicht immer noch hervorragend, auch im europäischen Vergleich?
Unser Gesundheitssystem ist besser als in manchen anderen Staaten, es gibt aber auch Systeme, die deutlich besser als das deutsche System funktionieren. Das liegt im ambulanten Bereich aber vor allem auch daran, dass viele Medizinerinnen und Mediziner dafür sorgen, indem sie sich nicht wie Unternehmer verhalten, sondern wie Ärzte, die sich dem hippokratischen Eid verpflichtet fühlen. Sie tun, was sie können, um ihren Patienten zu helfen, selbst wenn sie dafür schlimmstenfalls kein Geld bekommen.
Die Budgetierung der Behandlungsausgaben ist einst eingeführt worden, weil die Gesundheitskosten explodiert sind. Ist das nicht nachvollziehbar?
Sicher, es ist wichtig, dass die Kosten unter Kontrolle bleiben. Aber gibt andere Wege. Ein einfaches Beispiel: Wie oft gehen Patienten zu unterschiedlichen Ärztinnen und Ärzten, um eine zweite, dritte oder sogar vierte Meinung einzuholen? Wie oft werden Untersuchungen angeordnet, die medizinisch nicht notwendig sind? Moderne Diagnostik geschieht häufig ohne medizinische Indikation, weil Patienten darauf bestehen, um sie zu beruhigen oder um sich rechtlich abzusichern. Das verursacht enorme Kosten.
Orthopäden gehören angeblich nach Radiologen, Augenärzten und Internisten zu den Fachärzten, die am besten verdienen.
Meine Kollegen und ich verdienen unser Geld überwiegend mit geringen Beträgen von sieben oder zehn Euro. 5,37 Euro für eine Spritze, elf für ein Röntgenbild. Das heißt, dass ich darauf angewiesen bin, sehr viele Patienten zu behandeln und richtig Gas zu geben. Das liegt aber nicht in meinem Interesse, sondern ist Resultat des kranken Systems. Unter diesem System leiden wir niedergelassenen Fachärzte. Wir fordern nicht etwa, dass unsere Gewinne steigen, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach behauptet. Wir fordern nur, dass sie nicht weiter sinken.
Laut Kassenärztlicher Vereinigung lag der Honorarumsatz im vierten Quartal 2022, das sind die jüngsten Zahlen, bei Orthopäden in Bremen bei 68.435 Euro und rund 72 Euro pro Patient. Was heißt das?
Diesen Einnahmen stehen hohe Ausgaben gegenüber: Gehälter, Miete, Ausgaben für Energie, Material und Versicherungen, Softwareprogramme. Als selbstständige Ärzte müssen wir das Risiko eingehen und in die Ausstattung der Praxis investieren. Nach einer Statistik des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung lagen die Einnahmen einer durchschnittlichen Praxis im Jahr 2020 nach Abzug der Praxiskosten bei 172.000 Euro brutto. Davon gehen nicht nur Steuern ab, sondern auch die Kranken- und Pflegeversicherung und Altersvorsorge sowie die Tilgung für Praxisdarlehen über zehn bis 20 Jahre. Übrig bleibt ein gutes Einkommen, aber es ist nicht besser als das eines angestellten Arztes oder eines Ingenieurs. Und: Dafür habe ich 14 Jahre studiert, mich weitergebildet und konnte – anders als die, die früher auf dem Arbeitsmarkt angekommen sind – in dieser Zeit kein Haus bauen oder Geld ansparen.
Es sei kein Wunder, dass viele Fachärzte keine Nachfolger finden werden, sagen Sie. Warum?
In den vergangenen Jahren hat sich die wirtschaftliche Situation der meisten Praxen verschlechtert, weil die Gebührenordnung für Ärzte und die Honorare nicht angemessen angepasst werden. Die Gebührenordnung für private Kassen wurde 1996 zum letzten Mal reformiert. Welche Berufsgruppe in Deutschland arbeitet noch mit einem Tarif von 1996? Die Honorare der Krankenkassen steigen in Bremen jährlich um circa drei bis 3,5 Prozent. Das reicht hinten und vorne nicht, denn die Kostensteigerungen betragen rund acht Prozent – durch hohe Energiepreise, die Inflation, durch den Fachkräftemangel. Viele niedergelassene Ärzte arbeiten deutlich mehr als acht Stunden am Tag. Selbst das ist oft nicht einmal effektiv, wenn das Budget zum Quartalsende hin überschritten wird. Dann gibt es Abzüge.
Könnten Sie zum Ende des Quartals hin Ihre Praxis nicht einfach weitgehend schließen?
Das wäre schön, aber wir sind verpflichtet, 25 Sprechstunden in der Woche anzubieten. Ich kann auch nicht einfach Urlaub machen, wenn das Budget ausgeschöpft ist. Ich muss eine Vertretung organisieren. Aber der Kollege, der mich vertritt, hat dasselbe Problem: Auch er hat ein Budget, das er einhalten muss. Deshalb sage ich: Ich bin nicht selbstständig, ich bin scheinselbstständig. Ich kann meine Preise nicht bestimmen. Ich kann nicht verschreiben, was ich für richtig erachte. Ich kann nicht frei über meine Arbeitszeit entscheiden.
Sie bieten wie die meisten anderen Ärzte auch sogenannte Igel-Leistungen an. Daran verdienen Sie mehr.
Das ist richtig. Grob kann man sagen: Die Kassenpatienten decken meine Kosten ab. Ich lebe von Privatpatienten und Igel-Leistungen, die medizinisch allerdings auch sinnvoll sind.
Muss damit nicht der Verdacht naheliegen, dass Patienten zu Igel-Leistungen gedrängt werden?
Es gibt vernünftige Therapien und Hilfsmittel, deren Kosten die gesetzlichen Krankenkassen nicht übernehmen - im Gegensatz zu den privaten Kassen. Wenn man damit gute Erfahrungen gemacht hat, sollte man seine Patienten informieren. Bei Orthopäden ist das zum Beispiel die Stoßwellentherapie. Für die gesetzlichen Kassen ist ihr Nutzen angeblich wissenschaftlich nicht ausreichend belegt, allerdings bin ich davon überzeugt, dass es ihnen darum geht, Kosten zu sparen. Ich habe viele Patienten, denen diese Behandlung sehr geholfen hat.
Viele Ärztinnen und Ärzten beklagen die hohen Ansprüche der Patienten. Wie sehen Sie das?
Das ist tatsächlich ein Problem. Immer mehr Patientinnen und Patienten haben überzogene Ansprüche. Sie erwarten Wunder. Sie haben ihre Beschwerden gegoogelt und fordern eine bestimmte Behandlung ein, selbst wenn das medizinisch überhaupt nicht angezeigt ist. Sie machen die Übungen nicht, die ihnen angeraten werden, und beklagen sich, wenn ihre Beschwerden nicht innerhalb kürzester Zeit abnehmen. Wenn sie ihren Willen nicht bekommen, werden sie sauer und gehen zum nächsten Arzt. Meine Mitarbeiter und ich werden angeschrien oder angepöbelt, manchmal kommt es sogar zu Vandalismus. Wir haben fast jeden Tag einen Patienten in der Praxis, der laut wird oder miese Beurteilungen im Internet hinterlässt.
Andere Patienten klagen, dass sie monatelang auf einen Termin warten müssen.
Das liegt ebenfalls an dem kranken System und der hohen Anspruchshaltung. Wenn Menschen wegen jedem Wehwehchen zum Arzt gehen, kommen andere nicht zum Zug. Die Praxisgebühr hat das eingeschränkt, sie wurde trotzdem wieder abgeschafft. Wenn ein Arzt seine Leistungen nicht vollständig bezahlt bekommt, in manchen Quartalen die Überschreitungen nur zu 25 Prozent vergütet bekommt oder sogar riskieren kann, Honorare zurückzuzahlen, weil er sein Budget überzogen hat, nimmt er keine weiteren Patienten auf.
Sie haben bis Ende 2023 unter Ihren Patienten Unterschriften für eine Petition zur "Verbesserung der Rahmenbedingungen für die ambulante Versorgung" gesammelt. Was ist daraus geworden?
Die Petition ist von mehr als 550.000 Bürgern unterzeichnet worden. Im Februar gab es eine Anhörung im Petitionsausschuss. Aber ich habe bislang nicht den Eindruck, dass wir viel erreicht haben. Die Gesundheitspolitiker kümmern sich vor allem um die Krankenhäuser. Die ambulante Versorgung wird vernachlässigt, obwohl 553 Millionen ambulante Behandlungen im Jahr in den Praxen geleistet werden. Die Kassenärztliche Vereinigung ist keine Gewerkschaft, Ärzte haben keine Streikkasse, die ihre Kosten deckt, wenn sie eine Woche streiken würden.
An der Tür zu Ihrer Praxis haben Sie bis vor einigen Wochen angekündigt, Ihre Leistungen einzuschränken, wenn der Bundesgesundheitsminister die Honorare nicht erhöht. Welche Konsequenzen haben Sie gezogen?
Wenn ich mein Budget erreicht habe, vergeben wir keine Termine mehr. Das sage ich den Patienten klipp und klar. Sie können sich beim Bundesgesundheitsminister bedanken.
Was sagen Ihre Patienten dazu?
Die meisten verstehen das. Viele haben auch die Petition unterzeichnet.
Was hat Sie einst motiviert, Medizin zu studieren?
Ich komme aus einem Land, in dem ein Studium und der Arztberuf hohes Ansehen genießen. Ich bin dazu erzogen worden, etwas aus mir zu machen. Mir ist es aber auch wichtig, Menschen zu helfen.
Was ist geblieben?
Auch wenn ich mich über die Umstände ärgere. Es erfüllt mich immer noch, wenn ich Schmerzen lindern und Patienten zufriedenstellen kann.
Kommt es für Sie infrage, Deutschland zu verlassen und sich andernorts niederzulassen?
Ginge es allein um mich und meine Arbeit, würde ich Deutschland eventuell verlassen. Aber ich habe eine Familie, wir haben Freunde und Bekannte in Bremen. Das gibt man nicht so einfach auf.