Es war ein juristischer Hammer, der Ende April über Sven Beyer niederging. Sechs Jahre und vier Monate soll der 51-Jährige, der eigentlich anders heißt, im Gefängnis verbringen. Das Bremer Landgericht sah es am Ende eines Mammutverfahrens mit über 80 Verhandlungstagen als erwiesen an, dass Beyer und weitere acht Angeklagte im Frühjahr 2023 versucht hatten, in Bremerhaven eine halbe Tonne Kokain aus einem angelandeten Frachtcontainer zu bergen und ins Land zu schmuggeln. Die Zollfahndung war der Gruppe bereits während der Vorbereitungen auf die Schliche gekommen und ließ sie schließlich auffliegen.
Seine Strafhaft hat Beyer noch nicht angetreten. Zurzeit sitzt er in der JVA Oslebshausen in Untersuchungshaft und wartet den weiteren Gang der Dinge ab, denn seine Anwältin hat gegen den Urteilsspruch des Landgerichts Rechtsmittel eingelegt. Mit dem Ausgang des Strafverfahrens hadert der gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann gewaltig. Er hatte geglaubt, aus der Nummer halbwegs glimpflich herauszukommen, weil er den Ermittlungsbehörden einen wichtigen Hinweis auf den bevorstehenden Kokainschmuggel zukommen ließ. Das ist zumindest seine Version, die er auch während des Prozesses vor dem Landgericht vertrat.
Folgt man Beyers Darstellung, dann hatte er sich eher widerwillig auf den Rauschgiftcoup eingelassen. Bis 2019 war der gebürtige Berliner als Hafenarbeiter im Bremerhavener Überseehafengebiet tätig gewesen. Zu einem Zeitpunkt, als er dort längst ausgeschieden war, sei er von Unbekannten angesprochen worden, ob er bei der Bergung einer größeren Menge Kokain mitmachen wolle. "Es ging darum, einen angelandeten Container auf dem Hafengelände umzusetzen oder Leute zu vermitteln, die das können", so Beyer im Gespräch mit dem WESER-KURIER.
Ursprünglich eher abgeneigt, habe er sich schließlich zum Mitmachen bewegen lassen. Doch dann seien ihm Bedenken gekommen, sagt der 51-Jährige. Mehrfach habe er beim Hauptzollamt angerufen, um auf den bevorstehenden Schmuggel hinzuweisen. "Da bin ich aber abgewimmelt worden", sagt Beyer. Deshalb habe er einen anderen Weg beschritten, um Kontakt mit den Behörden aufzunehmen: das anonyme Hinweisportal der Bremer Justizbehörde.
Im Sommer 2022 hatte das Haus von Senatorin Claudia Schilling (SPD) ein Online-Meldeportal speziell für Hafenkriminalität eingerichtet. Ausgehend von der Erfahrung, dass für den illegalen Drogenimport fast immer die Unterstützung von Personen gebraucht wird, die im Hafen arbeiten, aktivierte die Behörde das digitale Postfach mit der Bezeichnung "Tatort Hafen". Hinweisgeber sollten die Möglichkeit erhalten, ihr Wissen an die Staatsanwaltschaft weiterzugeben, ohne ihre Identität offenbaren zu müssen.
Von dieser Möglichkeit will Sven Beyer Gebrauch gemacht haben. "Ich habe dort unter anderem den Namen des Schiffs mit der Drogenfracht genannt", sagt der Untersuchungshäftling. "Ich bekam dann eine Registrierungsnummer. 20582, die weiß ich noch aus dem Kopf." Eine Reaktion habe er allerdings nie erhalten.
An dieser Stelle wird die Geschichte politisch aktuell. Vor drei Wochen berichtete der WESER-KURIER über eine schwere technische Panne im Zusammenhang mit dem Meldeportal. Infolge der Angaben Beyers im Prozess vor dem Landgericht hatte die Justizbehörde das Portal technisch überprüfen lassen. Dabei kam heraus: Es war seit seiner Einrichtung funktionsuntüchtig. Die insgesamt 13 eingegangenen Hinweise hatten die zuständigen Staatsanwälte wegen einer Fehlprogrammierung nie erreicht. Es hatte sich in der Justizbehörde allerdings auch nie jemand dafür interessiert, warum auf dem Meldeportal mutmaßlich drei Jahre lang kein einziger Hinweis eingegangen war.
Am Dienstag wird sich der Rechtsausschuss der Bürgerschaft in einer Sondersitzung mit der fatalen Panne beschäftigen, die im Mai bundesweit Schlagzeilen machte. Die CDU hat zu dem Komplex einen umfangreichen Fragenkatalog eingereicht. In einer Vorlage für die Sitzung räumt die Justizbehörde Fehler in der technischen Betreuung des Meldeportals ein. Es habe sich auch bestätigt, dass der verurteilte 51-Jährige tatsächlich einen Hinweis über das Meldeportal lancierte. Dass seine Nachricht auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft versandete, habe ihm allerdings keine "rechtlichen Nachteile" bereitet. Im Urteil des Landgerichts sei nämlich bereits berücksichtigt worden, dass der Täter nicht nur über das Portal, sondern auch auf anderen Wegen Kontakt zu den Ermittlungsbehörden gesucht hatte.
Auch im Stadium der Ermittlungen hätte es "keinen erheblichen Einfluss" gehabt, wenn Beyers Meldung ohne Verzug bearbeitet worden wäre, ist man in der Justizbehörde überzeugt, denn: "Die bevorstehende Einfuhr und Bergung des Kokains aus dem Hafengebiet des Bremerhavener Hafens war den Ermittlungsbehörden zu diesem Zeitpunkt aufgrund verdeckter
Maßnahmen gegen die Tätergruppe bereits bekannt."
Anders gesagt: Für die Justizbehörde ist der Fall zwar ein Ärgernis – aber eben auch nicht mehr als das. Sven Beyer sieht das verständlicherweise anders. Für ihn hat das Urteil des Landgerichts von Ende April existenzielle Folgen. Beyer ist überzeugt: "Man weiß nicht, wie das für mich ausgegangen wäre, wenn meine Meldung aufgegriffen worden wäre." Er setzt seine Hoffnungen auf die Revision gegen den Schuldspruch. Die damit verbundene Ungewissheit und die Aussicht, schlimmstenfalls sechs Jahre und vier Monate einsitzen zu müssen, sei "beschissen".