So etwas hat die junge Frau hinter der Ladentheke auch noch nicht erlebt. Es ist fünf Uhr morgens, und kaum, dass sie die Tür zum Geschäft aufgeschlossen hat, schieben sich auch schon zehn junge Männer in die Bäckerei. Und draußen stehen noch einmal 20 Leute. Gleich soll die Bauerndemo Richtung Bremen starten. Am Treffpunkt in Melchiorshausen parkt Trecker an Trecker entlang der B 6. Großkampftag.
Einer im Laden erzählt, dass er seit 1.30 Uhr auf den Beinen sei. Einen Streudienst mit seinem Schlepper habe er schon hinter sich, minus drei Grad waren es diese Nacht. Jetzt will er sich eindecken mit Proviant. Die nächsten Stunden werden lang. Ein Kakao, ein belegtes Brötchen mit Käse, ein belegtes Brötchen mit Salami, macht 4,90 Euro. Die Bedienung arbeitet Akkord.
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Im gesamten Nordwesten haben sich an diesem Tag Bauern zu Protestaktionen verabredet. Der WESER-KURIER darf bei Dirk Kleemeyer, 49 und Landwirt aus Sudweyhe, auf dem Trecker mitfahren. Die große Frage der vergangenen Tage lautet: Wie wird die Aktion ablaufen? Seitdem Demonstranten den grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck am Donnerstag in Schleswig-Holstein am Verlassen einer Fähre gehindert haben, machen sich Menschen landauf landab Gedanken: Wie radikal ist die Bauernbewegung geworden?
Bauern setzen auf Entschleunigung statt Blockade

Nur ein Bruchteil der Teilnehmer am Bauernprotest schafften es bis zur Kundgebung in der Überseestadt. Viele Straßen waren verstopft.
„Ich will die Vorfälle um Habeck nicht verharmlosen“, sagt Kleemeyer, ein Mann wie ein Baum, „im ersten Moment habe ich gedacht: Das ist Mist. Aber man muss auch festhalten: Es ist am Ende nichts Schlimmes passiert.“ Diskussionen darüber, dass die Gesellschaft verrohe und dass die Streitkultur in der Demokratie vor die Hunde gehe, hält Kleemeyer für übertrieben. „Aber klar“, sagt er, „wir Bauern sind auch ein Abbild der Gesellschaft, und da gibt es welche, die sind ruhiger, und es gibt welche, die würden gern noch deutlich mehr Druck auf die Politik aufbauen.“
Die Landwirte an der B 6 in Melchiorshausen haben sich an diesem Tag für eine kontrollierte Offensive entschieden, könnte man sagen. Bevor es losgeht, erinnern zwei Polizeibeamte die Teilnehmer daran, dass eine Blockade der Autobahnauffahrten verboten sei. „Kein Problem“, sagt Kleemeyer, „das hatten wir sowieso nicht vor.“ Die Marschroute hier heißt Entschleunigung statt Blockade – was phasenweise allerdings auf dasselbe hinausläuft.
Mit fünf Kilometern pro Stunde schieben sich die Schlepper um 5.33 Uhr Richtung Ikea nach Brinkum. Immer wieder stockt der Zug. 100 Meter können schon mal 15 Minuten dauern. Wer an diesem Tag mit dem Auto über die B 6 nach Bremen will, muss viel Zeit mitbringen. Die meisten Autofahrer lassen sich im Schritttempo und vom Stop-and-Go mittreiben. Einige strecken den Daumen hoch. Aber nicht alle Autofahrer haben Geduld, sie fahren Slalom um die Trecker, überholen rechts oder benutzen Rad- und Fußwege zum Vorbeikommen.
Bei Kleemeyer im Deutz, 165 PS, läuft das Radio. Die Sprecherin der 6-Uhr-Nachrichten weist auf Verkehrsbehinderungen und Staus rund um Bremen hin. Die Bauern sind über Funk und in diversen Whatsapp-Gruppen miteinander vernetzt. Auf Kleemeyers Handy macht es bing-bing-bing im Minutentakt. Kollegen leiten Videos weiter und schicken Sprachnachrichten.

”Wir von der Pflege unterstützen Euch”: Von vielen Verkehrsteilnehmern gab es am Montag Solidaritätsbekundungen für die Landwirte zu lesen und zu hören.
In Arsten, teilt jemand mit, gehe nichts mehr, im Südkreis von Diepholz, sagt ein anderer, auch nicht. Groß Ippener? Dicht. So haben sich die Bauern das vorgestellt. Kleemeyer ist zufrieden: Ihr Protest wird wahrgenommen. Zeit für einen Schluck aus der Wasserflasche und ein Stück Laugengebäck.
Später kommt Kleemeyer auf der Gegenseite ein Schlepper entgegen, der am Heck einen Galgen montiert hat. Daran baumelt: eine Ampel, deren Farben rot, gelb und grün leuchten. Ein Galgen? Was hält er davon? „Es gibt Aktionen, die sind grenzwertig“, sagt Kleemeyer. Den Galgen zählt er eher dazu.
Kein Pardon kennt er dagegen für die Arbeit der Ampelkoalition. „Wir wollen die Regierung nicht umstürzen“, sagt Kleemeyer, „aber es ist klar, dass wir nicht zufrieden sind. CDU, SPD und FDP biedern sich bei den Grünen an, und die drücken mit dem Argument Klimaschutz alles durch.“ Weniger Pflanzenschutzmittel, weniger Dünger, dafür mehr Tierwohl und kein echter Schutz vor dem Wolf. „Die jüngsten Pläne waren nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“, sagt Kleemeyer.
Er betätigt sich deshalb seit einiger Zeit politisch. Ihm hat die Bauern-Bürger-Bewegung in den Niederlanden imponiert, die im vergangenen Jahr quasi aus dem Stand in mehreren Regionalparlamenten stärkste Kraft geworden ist. Ein Symbol der Bewegung, den Gummistiefel, haben längst auch deutsche Bauern übernommen. Kleemeyer hat sich einen entsprechenden Anstecker an die Jacke gepinnt.
Kleemeyer ist außerdem dabei, einen Ableger der Freien Wähler im Bremer Umland aufzubauen. In Bayern sitzen die Freien Wähler in der Regierung. Hubert Aiwanger, das Gesicht der Partei, ist umstritten, zu konservativ sind Kritikern seine Ansichten, zu drastisch seine Ausdrücke. Kleemeyer hat damit kein Problem. Auf seinem Smartphone hat er Videoschnipsel von Aiwanger abgespeichert. Viel mehr stört Kleemeyer, dass die Partei von einigen in die rechte Ecke gestellt wird. Jedem, der das glaubt, zeigt Kleemeyer seinen Aufkleber am Treckerfenster: "Landwirtschaft ist bunt, nicht braun", steht dort.

”Landwirtschaft ist bunt” lautet die Botschaft an diesem Trecker.
Das kann er alles in Ruhe erzählen. Denn der Verkehr ist nahezu zum Erliegen gekommen. Zur Kundgebung in die Überseestadt, das steht jetzt fest, wird er es nicht mehr schaffen. „Kein Problem“, sagt er. Vielleicht fährt er stattdessen später noch auf den Osterdeich. Er ist Werder-Fan, und vom Trecker aus hat er das Weserstadion noch nie gesehen. Auch dafür, findet er, wäre es mal an der Zeit.

Treckerstau in der Überseestadt: Nur ein Bruchteil der Teilnehmer am Bauernprotest schafften es bis zur Kundgebung. Viele Straßen waren verstopft.