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Geschichten von Zuwanderern Wie Kha Hien Minh und Hiba Naeef nach Bremen kamen

Fast 40 Prozent der Bremer haben eine Zuwanderungsgeschichte oder Eltern, die nicht in Deutschland geboren wurden. Ihre Biographien sind oft kurvenreich. Zwei Menschen erzählen von ihrem Weg nach Bremen.
03.06.2023, 05:00 Uhr
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Wie Kha Hien Minh und Hiba Naeef nach Bremen kamen
Von Timo Thalmann

Über 150.000 Menschen in Bremen gelten als Ausländer. Sie haben aktuell keinen deutschen Pass. Zählt man auch inzwischen eingebürgerte Zuwanderer hinzu, dann kommt man auf die Zahl von 246.000 Menschen, die in diesem Bundesland eine Einwanderungsgeschichte besitzen. Das entspricht rund 37 Prozent der Bevölkerung und ist bundesweit der höchste Wert unter allen Bundesländern, auch weit vor den anderen beiden Stadtstaaten Hamburg und Berlin. Auf ganz Deutschland bezogen liegt der Wert bei knapp 29 Prozent.

Dieses Bild der Bundesrepublik als Einwanderungsland ist das Ergebnis aus 70 Jahren Nachkriegsgeschichte mit unterschiedlichen Zuwanderungsbewegungen. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kamen zunächst die sogenannten Gastarbeiter, anfangs aus Italien, später vor allem aus der Türkei. In den achtziger und neunziger Jahren dominierten deutschstämmige Aussiedler aus Osteuropa und Russland die Zuwanderung. In den Jahren 2015 und aktuell sind vor allem Flüchtlinge aus Syrien und der Ukraine angekommen.

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Das spiegelt sich auch wider, wenn man die Zahlen der Ausländer in Bremen nach ihrer Herkunft aufschlüsselt: Mir rund 23.000 stammen die meisten Einwanderer aus der Türkei, danach kommt Syrien mit knapp 20.000 Menschen und an dritter Stelle steht mit 12.000 Menschen die Ukraine, erhoben jeweils zum Stichtag 31. Dezember 2022. Auch Polen und Bulgaren bilden mit jeweils rund 9000 Menschen eine große Gruppe. Der Rest verteilt sich auf über 160 Nationen. Von allen Ausländern in Bremen sind aktuell mit 43.000 knapp ein Drittel als Schutzsuchende registriert.

Im Schnitt 1500 Menschen werden jedes Jahr in Bremen als Deutsche eingebürgert, nur 2022 waren es mit über 2000 deutlich mehr. Knapp die Hälfte davon stammte aus Syrien.

Mehr als die Hälfte der knapp 130.000 ausländischen Erwachsenen ab 18 Jahren ist zudem jünger als 40 Jahre. Von allen über 18-Jährigen leben 38 Prozent (47.200 Menschen) seit mindestens zehn Jahren in Deutschland, der Großteil davon seit 15 Jahren oder länger. Weitere rund 29 Prozent (35.800 Menschen) wohnen seit mindestens fünf Jahren hier.

Trotz all dieser statistischen Fakten: Am Ende ist jede Zuwanderung eine individuelle Biographie, ein Lebenslauf, auf den die Älteren zurückblicken und den die Jüngeren mit Hoffnungen und Aussichten verknüpfen. Zwei dieser über 150.000 Menschen  erzählen ihre Geschichte:

 

Kha Hien Minh (58)

"Offiziell bin ich immer noch staatenlos"

Ich bin mit 14 Jahren nach Deutschland gekommen, gemeinsam mit meinem Bruder, aber ohne Eltern. Das war 1979. Ich bin in Saigon – heute Ho Chi Minh Stadt - geboren, meine Eltern waren aber Chinesen, die nach Süd-Vietnam ausgewandert waren. Als die Nordvietnamesen nach dem Krieg ihren kommunistischen Staat immer mehr ausbauten, haben meine Eltern für uns die Flucht aus Vietnam organisiert.

Für vier Tage waren wir Boatpeople, zwei von 300 auf einem Fischerboot, das keine 20 Meter lang war. Wir schafften es, lebend in Malaysia anzukommen. Das hieß, für vier Monate mit fast 40.000 anderen Flüchtlingen auf Palau Bidong in einem Lager zu leben. Unsere Ziele waren eigentlich die USA, Kanada oder Australien, an Europa hatte ich nie gedacht. Ich wusste auch nichts über Deutschland. Am 3. Oktober bin ich als Kontingentflüchtling mithilfe der Vereinten Nationen am Bremer Flughafen gelandet.

Flüchtlingslager in Malaysia

Hier kam ich in eine Pflegefamilie. Ein Pastorenhaushalt in Bremen-Farge nahm mich und meinen Bruder auf. Wir gingen zur Schule und mussten uns gewaltig umstellen. Kontakt zu meinen leiblichen Eltern war schwierig. Es gab seinerzeit noch kein Internet. Wir hatten nur Briefe, die wochenlang unterwegs waren. Wiedergesehen habe ich sie erst 1985, als sie nach Deutschland nachkommen durften, zusammen mit anderen Verwandten. Da war ich schon 20 und hatte anfangs Schwierigkeiten, ihren speziellen chinesischen Dialekt zu verstehen. Den hatte ich einfach lange nicht gehört und gesprochen. Meiner Mutter hatte lange Zeit große psychische Probleme, wohl auch durch die monatelange Unsicherheit, wie es uns ergangen ist.

Ich habe 1987 in Bremen Abitur gemacht. Danach wollte ich nur ein bisschen jobben und später Maschinenbau studieren. Ich bin dann aber in dem Job in einem China-Restaurant hängen geblieben. Ich bin da so unmerklich reingewachsen. Zuerst war ich nur als Aushilfe beschäftigt und dann gab es immer mehr Verantwortung. So wurde ich über die Jahre zu einem überzeugten Gastronomen. Ich war in Braunschweig, Kiel und Bremen in China-Restaurants beschäftigt, habe aber immer in Bremen gewohnt. Vor acht Jahren habe ich mich dann mit einer Espressobar in der Katharinenpassage selbstständig gemacht.

Wenn man mich fragt, wo ich zuhause bin, ist das Deutschland und natürlich Bremen. Ich bin jetzt seit 44 Jahren hier, die längste Zeit meines Lebens. Ich glaube, dass mein Wertesystem inzwischen ziemlich deutsch ist. Obwohl ich mich um den deutschen Pass nie bemüht habe. Sollte ich vielleicht mal machen. Offiziell bin ich immer noch staatenlos. Meine erwachsenen Kinder sind längst deutsche Staatsbürger. Wenn ich mit Verwandten chinesisch spreche, verstehen sie das nicht mehr gut. Sie denken dann immer, wir sprechen heimlich über sie.

Aufgezeichnet von Timo Thalmann

Hiba Naeef (24)

"Ich könnte mir vorstellen, Medizin zu studieren"

Ich bin Jesidin und im Irak aufgewachsen. Als ab 2015 der Islamische Staat auf unsere Bevölkerungsgruppe regelrecht Jagd gemacht hat, haben wir die Flucht versucht. Mein großer Bruder hat sich damals als Erster auf den Weg gemacht und hat die schwierige Variante über die Türkei und das Mittelmeer genommen. Er ist dann am Ende nach Bremen gekommen.

Ende 2017 konnten meine Mutter und ich ihm folgen. Mein Vater wollte von Anfang an, dass wir sicherer nach Europa kommen und es hat lange gedauert, bis wir mit einem Touristen-Visum nach Polen fliegen durften. Von Warschau aus sind wir dann direkt nach Deutschland zu meinem Bruder nach Bremen gereist und haben Asyl beantragt. Das wurde aber abgelehnt, weil wir eben über Polen eingereist sind und dort Asyl beantragen sollten. Wir haben dann fast ein Jahr in einem Kloster bei Dresden Kirchenasyl gefunden.

Dort habe ich angefangen, deutsch zu lernen. Irgendwann bekamen wir tatsächlich doch noch ein Aufenthaltsrecht, aber nur vorläufig, so lange ein neues Asylverfahren lief. Das dauerte dann fast fünf Jahre lang, aber seit vorigem Jahr habe ich einen Aufenthaltstitel. Dass ich in der Zwischenzeit ganz gut Deutsch spreche und seit Oktober 2021 bei der Gesundheit-Nord eine Ausbildung zur Röntgenassistentin mache, hat dabei geholfen, beides sprach für meine Integrationsbereitschaft.

Kirchenasyl bei Dresden

Ich kann eigentlich ganz gut lernen. Im Irak hatte ich eine Studienzulassung, also etwas, was hier dem Abitur entspricht. Aber die deutsche Sprache war eine Herausforderung, auch weil dann Corona kam und der Unterricht nicht mehr persönlich stattfand, sondern nur noch am Bildschirm. Meine erste Prüfung zum Sprach-Niveau B1 habe ich noch einfach so geschafft, ohne Kurs. Die nächste Stufe B2 ging dann nur mit Kurs. Später hatte ich dann schon meine Lehrstelle gefunden, als ich noch die C1-Prüfung gemacht habe. Damit könnte ich jetzt auch hier studieren.

Meine Ausbildung finde ich sehr interessant, vor allem Nuklearmedizin ist spannend. Gerne würde ich danach in einer Klinik oder Praxis in Bremen arbeiten. Ich könnte mir auch vorstellen, später noch Medizin zu studieren. Leider kann man das in Bremen nicht, ich müsste dafür also wieder woanders hin, was ich schade finde. Ich fange gerade an, mich hier einzuleben. Weil voriges Jahr auch mein Vater nachkommen konnte, werde ich auch im Alltag noch als Helfer gebraucht. Für ihn ist der Neuanfang in Deutschland noch schwer.

Mir ist in Deutschland und Bremen als Erstes aufgefallen, wie viele Kulturen hier nebeneinander vorhanden sind. Das kannte ich aus dem Irak nicht. Wo ich groß geworden bin, gab es keine andere Nationalität. Auch in Bagdad habe ich das nie so vielfältig gesehen. Aber alle dürfen hier frei leben und ihre Meinung haben. Das gefällt mir.

Aufgezeichnet von Timo Thalmann

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