In Blumenthal gehen die Hausärzte aus. In diesem Jahr hören mehr Mediziner auf als neue anfangen. Einige suchen seit einem Jahr vergeblich Nachfolger für ihre Praxen.
Heike Binne hat viele Brandbriefe verschickt: an die Gesundheitsbehörde, die Kassenärztliche Vereinigung, das Institut für Sozialmedizin, an die AOK, HKK und BKK. Anfang Mai war das. Geantwortet haben der Quartiersmanagerin aus Lüssum-Bockhorn bisher nur zwei. Erst rief die Vereinigung der Kassenärzte an, dann kam Post von Senatorin Eva Quante-Brandt (SPD). Wirklich helfen konnten beide nicht. Blumenthal gehen die Hausärzte aus. In diesem Jahr hören mehr Mediziner auf als neue anfangen.
Heike Binne sagt, dass sie unzufrieden und besorgt zugleich ist. Unzufrieden ist sie über die Resonanz auf die Brandbriefe, in denen sie im Namen von Dutzenden Menschen aus dem Quartier um Hilfe bittet. Besorgt ist sie über die ärztliche Versorgung im Blumenthaler Ortsteil, die sie in ihren Schreiben als massiv gefährdet bezeichnet. Und auch heute noch so nennt, obwohl sich die Situation seit Mai etwas entschärft hat: Statt drei Mediziner sind es jetzt noch zwei, die für ihre Praxen nach einjähriger Suche keinen Nachfolger finden konnten. Thomas Adrich hat für seine rund 1000 Patienten mittlerweile jemanden, der sich weiter um sie kümmern will.
Aber seine beiden Berufskollegen Harald Ramsauer und Michael Kadereit eben noch nicht. Beide kommen auf einen ähnlich großen Patientenstamm wie Adrich. Kadereit sagt, dass er sich kürzlich bei der Vereinigung der Kassenärzte wieder einmal die Liste der Bewerber angeschaut hat, die sich in Bremen niederlassen wollen, nur ausdrücklich nicht in Bremen-Nord. Kadereit weiß warum: „Zu viele Kassen-, zu wenig Privatpatienten.“ Kadereit und Ramsauer wollen die Nachfolgersuche einstellen und sie der Vereinigung der Kassenärzte überlassen. Findet die nach sechs Monaten niemanden, wird der Praxissitz aus dem Register gelöscht. Ein für allemal.
Das wäre für Heike Binne mehr als bloß der Anfang vom Ende. Der Quartiersmanagerin kommt der Bremer Norden schon jetzt wie ein Entwicklungsland vor, das nur noch auf Mediziner hoffen kann, die aus Überzeugung arbeiten und nicht aufs Geld schauen – „wie die Ärzte ohne Grenzen“. Bremen-Nord ist zwar kein Entwicklungsland, aber längst Fördergebiet. Mediziner, die sich dort niederlassen, erhalten vom Zusammenschluss der Kassenärzte einen Bonus und einen Ausgleich, falls ein Quartal mal nicht so einträglich war wie gedacht. Um welche Summen es geht, lässt die Vereinigung offen.
Dass der Bremer Norden Fördergebiet ist, erklärt sich nicht von selbst. Denn eigentlich gibt es in Blumenthal, Burglesum und Vegesack zusammengerechnet so viele Praxen, dass Christoph Fox sogar von einer „Überversorgung“ spricht. Allerdings sagt der Mann von der Kassenärztlichen Vereinigung auch, dass Bremen-Nord mehr Probleme hat, Nachfolger für Praxen zu finden, als der Westen, Süden und Osten der Stadt: „Wir versuchen mit Anreizen sozusagen vorzusorgen, dass es dort nicht zu einer Unterversorgung kommt.“ Deshalb wird der Norden nach seinen Worten ausnahmsweise auch gesondert betrachtet. In der Regel schaut sich die Vereinigung Bremen als Ganzes an. So wie es der Gesetzgeber vorschreibt.
Würde sich die Kassenärztliche Vereinigung Stadtteil für Stadtteil vornehmen, wüsste sie, dass einige Gebiete längst nicht mehr überversorgt sind. Wie Blumenthal. Rechnet man so, wie der Ärzteverband seinen Bedarfsplan kalkuliert, ergibt sich für den Stadtteil bestenfalls noch eine Regelversorgung, wenn künftig zwei Hausärzte weniger da sind. Dann kommen nicht mehr 18, sondern 16 Allgemeinmediziner auf 30 690 Einwohner. Der Sprecher der Kassenärzte sagt, dass die Vereinigung alles macht, was sie machen kann, damit es irgendwann nicht gar zu einer Unterversorgung kommt.
Boni und Umsatzgarantien – andere Kommunen machen längst mehr. Fox erzählt von Gemeinden, die 10 000 Euro zahlen, wenn sich ein Mediziner niederlässt. Von günstigen Krediten, die beim Hauskauf gewährt werden. Davon, dass im Rathaus jemand abgestellt wird, der sich ausschließlich um den Umzug des Arztes kümmert, von der Anmeldung der Kinder im Hort bis zur Ummeldung des Autos. Fox: „Sogar die Brötchen werden morgens frei Haus geliefert und von der Kommune bezahlt.“
Ob solche Anreize und Zugeständnisse gut oder schlecht sind, mag er nicht beurteilen. Für ihn zählt das deutsche Gesundheitssystem nach wie vor zu den besten. Trotz der größer werdenden Probleme, für manche Regionen Ärzte zu finden. Fox sagt, dass sich inzwischen Bundespolitiker in Arbeitskreisen zusammengeschlossen haben, um die Schwierigkeiten anzugehen. Ihm zufolge wird sowohl über neue Anreize für Ärzte beraten als auch darüber, nicht mehr nur für eine Stadt, sondern einzelne Stadteile den Bedarf an Praxen zu ermitteln.
Quartiersmanagerin Heike Binne kennt beide Lösungsansätze: Auf die Anreize hat die Kassenärztliche Vereinigung nach dem Brandbrief hingewiesen, auf die Möglichkeit, den Bedarf für Ärzte stadtteilbezogen zu planen, die Gesundheitssenatorin. Binne findet es gut, dass beide wenigstens auf ihren Hilferuf reagiert haben. Aber wie eine schnelle Lösung für Blumenthal aussehen könnte, weiß sie immer noch nicht. Genauso wenig wie Hausarzt Michael Kadereit. Er fragt sich, was das überhaupt bringen soll, wenn der Bedarf an Medizinern künftig kleinteiliger ermittelt werden kann: „Neue Ärzte gewinnt eine Region deshalb bestimmt nicht.“ Schließlich, sagt er, wird ein Gebiet für Mediziner dadurch weder attraktiver noch lukrativer.
Wie der Bremer Norden beides werden könnte, sagt Malte Hinrichsen aus der Behörde von Gesundheitssenatorin Eva Quante-Brandt nur so ungefähr. Nach seinen Worten ist das Ressort mit der Vereinigung der Kassenärzte im Gespräch, mehr Werbung für Bremen-Nord zu machen. Dass junge Ärzte den Standort explizit ablehnen, findet Hinrichsen bedauerlich und unverständlich. Anders als Hausarzt Kadereit hält er eine kleinteiligere Bedarfsplanung für sinnvoll: „Sie führt dazu, dass konkreter nachgewiesen werden kann, wo welche Ärzte fehlen.“ Bei einer großräumigen Kalkulation gewinnt man ihm zufolge lediglich einen Eindruck, wie die Lage ist.
Auch darüber, sagt Hinrichsen, diskutiert die Behörde mit dem Zusammenschluss der Mediziner schon länger. Einfach anweisen, stadtteilbezogen zu planen, kann Quante-Brandt die Vereinigung nicht. Christoph Fox, Sprecher der Kassenärzte, verweist darauf, dass die Bedarfsplanung vom Bund geregelt wird und nicht vom Land. Er kündigt nach den Brandbriefen aus Blumenthal weitere Gespräche mit den gesundheitspolitischen Sprechern aller Bürgerschaftsfraktionen an. Einen Termin kann er nicht nennen.
Aber Quartiersmanagerin Heike Binne kann das. Im August, gleich nach den Ferien, will sie die Menschen aus dem Quartier über die Antworten auf die Brandbriefe informieren: „Auch wenn es weniger als erwartet sind.“