Auch Stunden nach dem Anruf sei seine Mutter noch vollkommen aufgelöst gewesen, erzählt Günter Lanzen, der sich ernsthaft Sorgen um die 84-Jährige macht. "Man weiß ja nie, was so eine Geschichte noch hervorruft." Nicht viel besser stünde es um seinen Vater, ebenfalls 84, der bereits mehrere Herzinfarkte hinter sich hat.
Die Eltern von Lanzen wurden Opfer eines sogenannten Schockanrufs. Eine der Maschen, mit denen Betrüger an das Geld ihrer meist älteren Opfer kommen wollen. Gegen 11 Uhr klingelte das Telefon bei seinen Eltern. Die Mutter nahm ab, hörte am anderen Ende der Leitung zunächst nur eine Männerstimme, die völlig verzweifelt schluchzte und etwas von einem Unfall stammelte. "Günter, bist du das?", fragte die 84-Jährige in der Annahme, der Anrufer könne ihr Sohn sein. In diesem Moment wurde der Hörer weitergegeben. Es meldete sich eine Frau namens Müller. Sie sei Polizistin. Ihr Sohn habe bei einem Autounfall jemanden lebensgefährlich verletzt. Der Mann sei auf dem Weg ins Krankenhaus. Und ob sie die Mutter von Günter Lanzen sei? Damit gab sich die Anruferin zunächst zufrieden. "Wir melden uns gleich wieder."
Kurz danach folgte der zweite Anruf. Diesmal nahm der Vater von Günter Lanzen ab. "Sind sie der Mann von Frau Lanzen, mit der ich eben gesprochen habe?", erkundigte sich die angebliche Polizistin, und erfragte anschließend weitere persönliche Daten, wie die Vornamen der Lanzens, die Geburtsdaten und ihre Adresse. Dann berichtete sie dem Vater von einem Anruf der Staatsanwaltschaft: Der Mann, den sein Sohn angefahren habe, sei auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Mit der Frage, ob die Lanzens zum Polizeirevier am Wall kommen könnten, weil man noch Unterlagen benötige, endete dieses zweite Telefonat, erzählt Günter Lanzen. "Gefordert wurde bis dahin aber nichts von meinen Eltern."
Vorgetäuschte Notsituation
Ein typischer Fall von Schockanrufen, wie sie zurzeit häufiger in Bremen vorkämen, erklärt Polizeisprecher Nils Matthiesen. "Die Betrüger geben sich am Telefon als Tochter, Sohn oder Enkel aus, als Polizeibeamter oder Rechtsanwalt und täuschen eine Notsituation vor." Ziel dabei sei es, die Angerufenen dazu zu bringen, Geld oder Wertsachen, wie teuren Schmuck, an sie zu übergeben. "Die Anrufer berichten zum Beispiel von einem Verkehrsunfall, in dessen Folge ein Familienmitglied sofort operiert werden müsse. Die Operation könne jedoch nur durchgeführt werden, wenn sie vorher in bar bezahlt wird." Die Betrüger setzten bewusst auf den Schockmoment und versuchten, ihre Opfer zeitlich unter Druck zu setzen, um sie zu unüberlegten und schnellen Entscheidungen zu drängen.
Die Polizei Bremen führt diese Taten unter SÄM-Delikte – Straftaten zum Nachteil älterer Menschen. Ab 2020 waren die Fallzahlen rückläufig, berichtet Matthiesen. "Seit Anfang 2022 ist aber wieder ein sprunghafter Wiederanstieg der Eingangszahlen zu registrieren." In etwa vier von fünf Fällen bleibt es laut Polizei beim Versuch. Wobei diese Statistik nur die angezeigten Fälle betrifft. Wie viele Opfer sich nicht melden, etwa weil sie sich schämen, den Tätern auf den Leim gegangen zu sein, ist nicht zu beziffern.
Bei den Lanzens war dies nicht der Fall. Merkwürdigerweise meldeten sich die Täter nicht noch einmal, berichtet Günter Lanzen. Die Lügengeschichte sei aber ohnehin kurz nach dem zweiten Telefonat aufgeflogen. "Zufällig habe ich genau in diesem Moment selbst meine Eltern angerufen."