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Ein Leben mit ALS So sieht der Alltag von Tobias Laatz aus

Tobias Laatz ist unheilbar krank. Ärzte gehen davon aus, dass ihm noch Monate bleiben. In einer Serie begleiten wir den Mann und seine Familie – heute zu Hause, wo er inzwischen die meiste Zeit ist.
05.11.2017, 18:00 Uhr
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So sieht der Alltag von Tobias Laatz aus
Von Christian Weth

Armageddon, das jüngste Gericht – Tobias Laatz mag den Film. Er hat ihn schon oft gesehen. Wie oft, schreibt er mit den Augen, weil er nicht sprechen kann. Ein roter Punkt verharrt über dem D einer Bildschirmtastatur. Vom D geht es zum r, vom r zum e, vom e zum...: „D-r-e-i-m-a-l.“ Es gibt keinen Film, den er bloß ein Mal gesehen hat. Seine Frau hat für ihn die DVD eingelegt und den Fernseher im Schlafzimmer eingeschaltet. Gleich will Doris Laatz für eine halbe Stunde weg. Einkaufen. „I-c-h l-i-e-b-e d-i-c-h.“ Den Satz sagt eine Stimme, die nicht Tobias Laatz‘ Stimme ist. Sie kommt aus dem Bildschirm. Der Mann lächelt, die Frau lächelt zurück.

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Er bleibt jetzt morgens länger liegen, weil ihm das Sitzen immer schwerer fällt. Liegen und sitzen. Sitzen und liegen. Das letzte Mal gestanden hat er vor knapp einem Jahr. Es gibt ein Foto von ihm im Wohnzimmer, das ihn an Krücken zeigt. Auf allen anderen Bildern an den Wänden liegt er entweder im Bett oder sitzt im Rollstuhl. Tobias Laatz, 35, Nordbremer, drei Kinder, hat ALS. Die drei Buchstaben stehen für Amyotrophe Lateralsklerose. Der Mann verliert die Kontrolle über seinen Körper. Alle Muskeln versagen nach und nach. Münchener Mediziner gehen davon aus, dass er im Winter sterben wird. Entweder infolge einer Lungenentzündung oder durch Ersticken.

Die Schule ist aus

Heute rettet Hollywoodstar Bruce Willis die Welt zum vierten Mal für Tobias Laatz. Er findet Armageddon gut, weil der Film alles hat: „D-r-a-m-a-t-i-k, L-i-e-b-e u-n-d i-r-g-e-n-d-w-i-e e-i-n H-a-p-p-y-E-n-d.“ Der Held stellt gerade ein Team zusammen, das einen Meteoriten sprengen soll, als die Zimmertür aufgeht. Die Schule ist aus. Leonie Renken, die älteste Tochter, kommt herein. Erst gibt sie ihrem Vater einen Kuss, dann sagt die Drittklässlerin, dass sie heute keine Hausaufgaben machen muss. „Frau Homman ist krank.“ Pia Laatz, das mittlere Kind, steht hinter der großen Schwester und zeigt Tobias Laatz drei selbst gemalte Bilder, von denen er sich eines aussuchen soll. Er nickt, als sie ein weißes Blatt Papier mit einer blauen Blume hochhält.

Auch Doris Laatz ist zurück. Sie setzt Fabienne, neun Monate, ins Kinderbett im Schlafzimmer: „Gleich gibt es Pfannkuchen.“ Der Film läuft weiter, ohne dass jemand zum Fernseher schaut. Tobias Laatz guckt zu Fabienne, Fabienne zu ihm. Später wird sie Babybrei bekommen – Spinat und Kartoffeln – und ihr Vater einen Sondenbrei – Huhn, Tomate, Fenchelgemüse. So steht es auf der Plastikflasche. Der Firmenname ist derselbe wie auf den Gläsern für Fabienne. Weil Tobias Laatz nur noch schlecht schlucken kann, spritzt seine Frau ihm die Nahrung durch einen Schlauch in den Magen. Sie sagt, dass es besonders kalorienreiche Kost ist.

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Tobias Laatz baut trotzdem körperlich ab. Seine Arme und Beine sind so dünn, dass die Pflegekräfte, die regelmäßig zu ihm kommen, sie beinahe mit einer Hand umfassen können. Heute ist erst eine Frau da, die ihn dehnt und bewegt, weil er sich allein nicht mehr dehnen und bewegen kann. Später kommt eine Kollegin von ihr, die ihn massiert, damit seine Füße und Hände abschwellen. Seine Finger sind so gekrümmt, dass es schwierig ist, seinen Ehering abzustreifen. Beide Therapeutinnen sagen dasselbe: dass die Krankheit schneller voranschreitet als bei anderen Patienten. Dass Tobias Laatz von Mal zu Mal weniger kann, aber mehr und mehr Probleme bekommt.

Im Grunde hat er ständig Schmerzen, im Liegen, im Sitzen, am Tag, in der Nacht. Der Mann erhält Morphium und Tilidin. Beide Medikamente sind der Grund dafür, dass er morgens länger im Bett bleibt und Filme guckt, die ihn ablenken. Actionschauspieler Bruce Willis fliegt jetzt mit seinem Team zum Meteoriten, der auf die Erde zurast. Im Spaceshuttle flimmern Monitore, blinken Anzeigen, summen Apparate. Auch im Schlafzimmer von Tobias Laatz gibt es viel Technik, echte Technik. Neben seinem Bett ist ein Beatmungsgerät. Über ihm hängt ein Lifter, mit dem er aus und ins Bett gehievt werden kann. In der Ecke steht ein Tropf mit einer Infusionsflasche.

Ehefrau muss immer öfter nach seinen Befindlichkeiten fragen

Doris Laatz hat ihrem Mann vorhin sein Essen gespritzt. Sie und die Kinder sitzen deshalb allein am Tisch im Wohnzimmer. Fabienne wird gefüttert, Leonie und Pia machen aus ihren Pfannkuchen süße Rollos. In die Mitte streuen sie Zucker mit Zimt. Pia, die in die erste Klasse geht, stöhnt über die Hausaufgaben, die sie machen muss. „Ach, Rechnen.“ Sie pustet sich den Pony aus der Stirn. Leonie lacht. Sie mag Mathe: „Im Übungsheft bin ich weiter als alle anderen aus der Klasse.“ Die große Schwester rechnet der kleineren laut vor, wie viel sechs plus zehn ist und hundert plus hundert.

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Leonie und Pia gehen in ihre Zimmer, ­Doris Laatz schaut nach ihrem Mann. Sein Nacken tut ihm weh, weil das Kopfkissen verrutscht ist, und er es nicht wieder dort hinbekommt, wo es mal lag. „A-l-l-e-i-n“, schreibt er, „b-i-n i-c-h h-i-l-f-l-o-s.“ Setzt sich eine Fliege auf seine Stirn, kann er sie nicht verscheuchen. Juckt es am Bein, kann er sich nicht kratzen. Liegt er unbequem, kann er sich nicht im Bett umdrehen. Nicht ohne seine Frau. Später, der Film ist längst vorbei, streicht sie ihm ein Haar von der Wange, das ihn so lange gekitzelt hat, dass Tobias Laatz den Mund verzieht, als müsste er gleich weinen oder schreien.

Ihm anzusehen, was er will oder braucht, wird immer schwieriger. Wie alle Muskeln machen auch die in seinem Gesicht nicht mehr das, was sie früher einmal machten. Manchmal sieht Tobias Laatz traurig aus, dabei ist er in diesem Moment zufrieden. Und wenn er lacht, kann man den Eindruck bekommen, dass er weint. Doris Laatz sieht ihm vieles an, was andere nicht sehen. Doch auch sie muss jetzt häufiger eine Frage nach der anderen stellen, um herauszufinden, was ihr Mann ihr sagen will, aber ohne Computer nicht sagen kann.

Jetzt muss er auf Toilette. Die Frau schnallt ihn in den Tragegurt des Lifters, der ihn aus dem Bett hievt. Über eine Schiene an der Decke zieht sie ihn über den Rollstuhl und lässt ihn herunter. Das Gleiche macht Doris Laatz im Bad, nur umgekehrt. In die Wanne bringt sie ihren Mann auf ähnliche Weise. Mehrmals in der Woche kommt der Pflegedienst, um Tobias Laatz im Bett zu waschen. Das Baden übernimmt aber immer sie, weil es ihm schwer fällt, von Fremden hilflos gesehen zu werden. Auf dem Rand der Wanne liegen Schwimmflügel.

Die Familienhelferin kommt

Es klingelt. Janine Havermann steht im Treppenhaus. Die Frau arbeitet für eine Stelle bei der Stadt, die Eltern entlastet. Die Familienhelferin hat sich mit Leonie und Pia verabredet. Zusammen wollen sie gleich an der Weser spazieren gehen. Oder Gassi gehen. Havermann hat ihren Mops dabei. „Berta, Berta, Berta!“ Die beiden Mädchen beeilen sich, in ihre Regenjacken und Gummistiefel zu kommen. Nachher, auf dem Rückweg, werden sie eine Pizza essen. Abendbrot mal auswärts.

Tobias Laatz kann nicht mehr nach draußen. Er hat kaum noch Kraft in der rechten Hand, mit der er den Elektro-Rollstuhl lenkt. Vom Schlafzimmer ins Bad schafft er es nur mit Mühe. Bei ihrer Hochzeit vor einigen Wochen sah alles noch so einfach aus. Beide saßen zusammen im Rollstuhl. Er lenkte, sie lachte. So eröffneten sie den Tanz. Demnächst wollen Techniker den Joystick von der rechten auf die linke Seite montieren. Auch an die Rückenlehne soll ein Hebel kommen, damit jemand den Rollstuhl steuern kann, wenn Tobias Laatz auch keine Kraft mehr in der Linken hat.

Bevor sie ins Bett müssen, tanzen die älteren Schwestern. Popmusik kommt aus Pias Zimmer. Fabienne schläft schon. Im Wohnzimmer gehen die Eltern den nächsten Tag durch. Tobias Laatz braucht ein Kopfband, damit seine Brille nicht ständig verrutscht. Auch die Rollstuhlfirma muss angerufen werden. Was in einigen Wochen sein kann, spielt in diesem Moment keine Rolle. Aber schon im nächsten. Auf dem Monitor steht ein Satz, der nichts mit der To-do-Liste zu tun hat:
„I-c-h h-a-b-e s-t-ä-n-d-i-g A-n-g-s-t“ – die Ausrufezeichen dahinter füllen mehrere Bildschirmzeilen.

Tobias Laatz liegt wieder. Am nächsten Tag wird er einen weiteren Film gucken, der alles hat, so wie der mit Bruce Willis: „D-r-a-m-a-t-i-k, L-i-e-b-e u-n-d i-r-g-e-n-d- w-i-e e-i-n H-a-p-p-y-E-n-d.“ Der Held opfert sich in Armageddon, um alle Menschen zu retten. Er hinterlässt eine Tochter.

Die Probleme

Als Doris und Tobias Laatz mit ihren Kindern zusammenzogen, war ihre Wohnung so, wie viele Wohnungen sind. Sie hatte Türen mit Standardmaßen, Zimmer in Standardgröße, keinen Fahrstuhl. DieFamilie brauchte jedoch andere vier Wände mit anderen Normen. Und sie brauchte sie schnell. Doch was die Frau und der Mann suchten, fanden sie lange nicht: vier Zimmer, Küche, Bad, alles rollstuhlgerecht. Die haben sie jetzt – durch Zufall.

Das Ehepaar ging Inserate im Internet durch, in Zeitungen, fragte Freunde und Verwandte. Auch das Ortsamt wurde eingeschaltet. Das machte, was es bisher noch nie gemacht hatte: Es rief dazu auf, der Familie zu helfen und beschrieb Tobias Laatz‘ Lage. Wollte er damals nach draußen, musste er auf dem Po die Treppenstufen herunterrutschen. Über Monate ging das so.

Tobias Laatz ist ein extremer, aber kein einzelner Fall. Wer schnell eine rollstuhlgerechte Wohnung braucht, muss in der Regel zu lange warten. Joachim Steinbrück kritisiert das immer wieder. Der Behindertenbeauftragte des Landes hat sich deshalb für eine Quote eingesetzt: Jede achte Wohnung, die barrierefrei gebaut wird, muss auch für Rollstuhlfahrer nutzbar sein.

Dass Doris und Tobias Laatz mit den Kindern doch noch umziehen konnten, schreiben sie einem Bekannten zu. Der hatte zufällig erfahren, dass ein Rollstuhlfahrer in der Nachbarschaft gestorben war. Seine Wohnung ist jetzt ihre Wohnung.

Die Grenzen

Es hat eine Zeit gegeben, in der fühlte sich Doris Laatz unendlich stark. Damals war sie schwanger und kümmerte sich um Tobias Laatz, ihren schwerkranken Partner, plus die beiden Kinder Leonie und Pia. „Ich dachte, alles schaffen und alles aushalten zu können.“ Doris Laatz, 28, hat falsch gedacht. Die Stärke, sagt sie, verließ sie wenige Wochen nach der Geburt von Fabienne, der Jüngsten. Sie weiß nicht, wieso. Aber auf einmal habe sie sich überfordert gefühlt. Doris Laatz wollte deshalb Zeit für sich und für Stunden weg – „nicht jeden Tag, aber hin und wieder mal“. Das sagte sie auch ihrem Mann. Es kam zum Konflikt.

Doris Laatz zog vorübergehend aus. Sie sagt, dass sie das nicht geplant hatte und im Grunde auch gar nicht wollte. Was sie wollte, waren Verständnis und Rückhalt. Doch als sie weder das eine noch das andere fand, blieb sie erst eine, dann eine zweite und dritte Nacht bei ihrer Mutter, die in der Nähe wohnt. Fabienne und ihre große Tochter nahm sie mit. Detlev Dewers, der Vater von Tobias Laatz, übernahm die Pflege seines Sohnes und kümmerte sich zugleich um dessen Tochter Leonie.

Nach einiger Zeit kam es zur Annäherung: Doris Laatz kehrte tagsüber in die Wohnung zurück, übernachtete aber weiterhin bei ihrer Mutter. Sie zog erst wieder ein, nachdem sie und ihr Mann alles geklärt hatten. Ihre mehrwöchige Trennung können Doris und Tobias Laatz nicht einfach vergessen. In ihrem Eheversprechen, das sie sich kürzlich gaben, klingt an, was damals war. In seinem steht, dass sie große Steine auf ihrem Weg überwunden haben – in ihrem, dass sie jede Nacht seine Hand halten wird.

Doris Laatz macht jetzt etwas anders im Alltag. Es gibt zwei Stunden, die allein ihr gehören. Von neun bis elf am Abend ist ihre Zeit. Wenn alle im Bett sind, bleibt sie bewusst im Wohnzimmer, um nur das zu tun, was sie will. Mal tauscht sie sich mit Freunden über Facebook, Telefon und SMS aus. Mal hört sie Musik oder guckt Fernsehen. Mal liegt sie aber auch einfach nur auf dem Sofa, um zur Ruhe zu kommen. Erst danach geht sie ins Schlafzimmer, um wieder bei ihrem Mann zu sein.

Sie weiß nicht, ob die zwei Stunden am Tag reichen, um dauerhaft belastbar zu bleiben. Pflegekräfte, Therapeuten und eine Familienhelferin unterstützen zwar, trotzdem ist Doris Laatz von morgens um sieben bis abends um neun abwechselnd mit der Betreuung ihres Mannes, der drei Kinder und mit dem Haushalt beschäftigt. Das Gefühl, überfordert zu sein, kommt immer mal wieder, aber: „Es bleibt nicht mehr so lange wie damals.“ Momentan hat Doris Laatz den Eindruck, dass sie so schnell nichts aus dem Gleichgewicht bringen kann. Das Verständnis und der Rückhalt, sagt sie, seien wieder da. „Es geht mir besser als vorher."

Die Serie

In dieser Serie geht es ums Leben, weil Tobias Laatz noch viel erleben will. Wie jeder Mensch. Mit dem Unterschied, dass ihm weniger Zeit bleibt als anderen. Der Mann rechnet nicht in Jahren, sondern in Augenblicken. Je intensiver sie sind, sagt er, desto besser. Laatz ist 35 und unheilbar krank. Ärzte gehen davon aus, dass er nur noch Monate hat. Welche Wünsche bleiben einem, wenn die Zeit extrem begrenzt ist? Was macht das mit jemandem, wenn er plötzlich erfährt, bald sterben zu müssen – mit seiner Frau, seinen Kindern, den Verwandten, den Freunden? Und ist es überhaupt möglich, intensiv zu leben, wenn man selbst auf intensive Pflege angewiesen ist? Wir werden Tobias Laatz und seine Familie begleiten.

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