Um mal mit dem Theorieunterricht zu beginnen: Es gibt Läufer, und es gibt Ultraläufer. Wo da genau das eine aufhört und das andere anfängt, und ob da die Grenze nicht eher fließend ist undsoweiter, das würde hier wohl zu weit führen. Auf jeden Fall kann man aber sagen, dass dieser Jan Schrobsdorff aus Bremen beides ist: Er läuft. Und manchmal läuft er sehr, sehr lange Strecken.
So wie jetzt bei diesem 24-Stunden-Wettbewerb von Braunschweig. Wer schafft wie viel an einem vollen Tag? Das war die Herausforderung des Ereignisses, und Jan Schrobsdorff gehörte zu den Männern und Frauen, die es wissen wollten. Er gehörte dabei – was in der Szene auf viele zutrifft – nicht zu denjenigen, die sich vorwiegend mit anderen messen wollten. Sondern zu denjenigen, die es mit sich selbst aufnehmen wollten. Das Rennen gegen andere, das ist natürlich auch ein Ding bei solch einem Event wie dem 10. Braunschweiger 24-Stunden-Lauf im Stadtteil Rüningen.
Für die meisten ist die Sache aber die: Sie laufen gegen sich selbst. In dem kleinen Rüninger Stadion haben sie das auf einer 1000 Meter langen Runde gemacht, die im Übrigen so abgesteckt war und im geschlängelten Kurs über Tartanbahn und Rasen führte, dass es nicht, wie sonst im Stadion üblich, immer nur linksherum ging. „Das war ganz gut für die Knie“, sagte Jan Schrobsdorff.
Das war aber natürlich nicht die wichtigste Antwort auf die wichtigste Frage, die es hinterher mit ihm zu besprechen galt. Wie viel hatte er nun geschafft? Und vor allem: Wie ist das, gegen sich selbst laufen, wenn der Lauf, sagen wir mal, etwas länger ist als der Sprint, um den Bus noch zu kriegen?
Für Frage eins reicht ein kurzer Blick auf die Ergebnisliste. Schrobsdorff, vor Kurzem 35 geworden und als dreifacher Familienvater und Mitarbeiter in einem Naturstrom-Projekt nicht eben gelangweilt, hat 101 Kilometer geschafft. Er ist damit 43. geworden, und war der 34-beste Mann sowie der viertbeste von den unter 40-Jährigen. Sein um sechs Jahre älterer Bruder, Hecke Degering vom ASFM Göttingen, hat mit 184 Kilometern das Ultra-Ding von Rüningen gewonnen. Und unter den insgesamt 445 Startern, von denen viele aber nur für wenige Kilometer dabei waren, taucht in der Ergebnisliste ein weiterer Bremer auf. Weit vorn. Stefan Schell von der SG Stern brachte es auf 151 Kilometer. Nur sieben von 445 hatten mehr Runden vollendet als Schell.
Ultraläufer sind auf einem Selbsterfahrungstrip. Das darf man wohl übergreifend behaupten, wenn man sich der Frage zwei zuwendet. Wie ist das denn bei solch einem Ding? „Ja, ich hab‘ mich noch besser kennengelernt“, sagt Schrobsdorff. Er war vor Jahren von seinem Bruder Hecke mit diesem nicht sichtbaren, aber wohl doch existenten Laufvirus infiziert worden.
Er hatte sich dann für das Jahr 2019 drei Herausforderungen gestellt. Im Winter die sogenannte Brocken-Challenge über 80 Kilometer von Göttingen zum Brocken hinauf. Im Frühjahr der von ihm selbst organisierte und Backyard Ultra genannte Ausscheidungslauf rund um den Werdersee, bei dem stündlich so oft zur nächsten Runde angetreten wird, bis keiner mehr kann.
Und im Sommer nun diese 24-Stunden-Premiere. Wer so etwas angeht, noch dazu bei Affenhitze, darf als ein bisschen verrückt gelten, vielleicht lässt sich das verrückt auch weglassen. Aber Verrückte in einem eher medizinischen Sinn sind es trotzdem nicht, die da rumrennen. Schrobsdorff, studierter Wirtschaftswissenschaftler, nahm sich 100 Kilometer vor.
Nicht nur Verantwortung für sich selbst
Er nahm sich außerdem vor, seinen Kreislauf und seine Muskeln nicht über jenen Punkt zu treiben, den man am einfachsten mit einem Punkt jenseits des toten Punktes beschreibt. Er war mit dem Auto nach Braunschweig gefahren, hintendrin saßen seine kleine Tochter und sein noch kleinerer Sohn. Er hatte Verantwortung, nicht nur für sich. Er wollte in der Lage sein, seine Kinder wieder sicher nach Bremen zurückbringen zu können.
Der Lauf gegen sich selbst: „Die ersten 50 Kilometer gingen ganz gut“, erzählt Schrobsdorff. Er machte eine halbe Stunde Pause. Wechselte Schuhe und Socken, aß etwas. Und entschied sich für einen Plan: Lieber jetzt konstant statt etappenweise am 100-Kilometer-Ziel arbeiten. Schön weiter ein Fuß vor den anderen. Trapp, trapp, trapp. Und weiter. Schmerzen? Egal. So schlimm sind die nun auch nicht. Weiter! Sein Credo: Laufen fängt da an, wo das Denken aufhört.
Er sei dann nach der kurzen Pause wieder gut und besser als erwartet vorangekommen, sagt Schrobsdorff. „Doch so bei 80, 85 Kilometern, da habe ich gelitten“, sagt er. Der tote Punkt. Sah bei ihm so aus, dass er fluchte und am computergesteuerten Rundenzähler zweifelte. Das musste falsch sein, er hatte doch schon mehr Runden gemacht!
Der Rechner hatte sich natürlich nicht verrechnet. „Mein Kopf war einfach schon weiter, als ich in Wirklichkeit war“, sagt Schrobsdorff. Er überwand den toten Punkt. Die Anfeuerungen, die Stimmung an der Strecke, sie halfen dabei. Langstreckenläufer können sich ohne Rauschmittel einen Rausch verschaffen.
Am Nachmittag um 15 Uhr war das Rennen gestartet worden, am frühen Morgen gegen 5.30 Uhr hatte Schrobsdorff sein Ziel erreicht. Der Rundenzähler wies die 100. Runde aus. Der Bremer Dauerläufer ließ es sein, er legte sich schlafen und nutzte die verbleibenden neuneinhalb Stunden nicht dafür, um noch weitere Kilometer aufs Konto zu schaufeln. Kann er ja beim nächsten Mal machen.
Nur eins wollte er noch erledigen, bevor er den, tja, müden Knochen Erholung gönnte. Er schnappte sich seinen Johan, dreieinhalb Jahre alt, der selbst erstaunliche fünf Kilometer (größtenteils) gelaufen war. Und dann drehte Jan Schrobsdorff mit Johan Schrobsdorff auf dem Arm noch eine letzte Runde.
303 Kilometer sind Weltrekord
Den 24-Stunden-Lauf als Wettkampf soll es schon seit mehr als 200 Jahren geben. Dabei geht es darum innerhalb von 24 Stunden so viele Kilometer wie möglich zurückzulegen. Ob und wie lange dabei pausiert wird, spielt keine Rolle. Den Weltrekord in dieser Ultra-Disziplin, in der jährlich auch deutsche, Welt- und Europameisterschaften ausgetragen werden, hält laut Wikipedia seit 1997 der in Australien lebende Grieche Yiannis Kouros.
Er schaffte damals in Adelaide 303 und einen halben Kilometer. Weltrekordlerin bei den Frauen ist die Ungarin Edit Berces, die 2002 in Verona 250 Kilometer zurücklegte. Die deutschen Rekorde halten Wolfgang Schwerk, der 187 in Köln 276 Kilometer schafft, und Sigrid Lomsky, die 1993 in basle auf die damalige Weltrekordstrecke von 243 Kilometern kam.