Seit 1993 ist der Essener Udo Brandt Streckenvermesser. Klingt nicht besonders sexy, ist aber – auch im Hinblick auf den Bremen-Marathon am 6. Oktober – ein sehr wichtiger Job. Für den Breitensportler ist es möglicherweise nicht so bedeutsam, ob er exakt 42,195 Kilometer zurückgelegt hat oder einige Meter mehr oder weniger. Aber für Läufer, die mit ihren Resultaten in Rekord- oder Bestenlisten auftauchen wollen, ist das offizielle Zertifikat einer Streckenvermessung des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) Voraussetzung. Das gilt natürlich nicht nur für die Marathon-Distanz, sondern auch für den Halbmarathon und die 10-Kilometer-Strecke.
Anders ausgedrückt: Eine Strecke, die nicht von den obersten DLV-Vermessern Udo Brandt oder Karl-Josef Roth genehmigt worden ist, ist nicht bestenlistentauglich. So einfach ist das geregelt. Und manchmal, wie im Fall von René Anselment, löst das fehlende Zertifikat auch großen Ärger aus. Anselment lief in Bremen den Marathon seines Lebens. Er wollte unter drei Stunden laufen, lief dann für ihn sensationelle 2:53:32 Stunden – und läuft seit zwei Jahren der Anerkennung seiner Bestzeit hinterher. Warum? Weil es der einzige Bremer Streckenvermesser, Herwig Renkwitz, nicht geschafft hat, das Protokoll der Vermessung beim DLV genehmigen zu lassen. Genauer gesagt: Renkwitz weiß nicht, wo es geblieben ist. Er habe es damals weggeschickt, aber bei Udo Brandt ist es nie angekommen. Und folglich nie genehmigt worden.
„Ich nehme die Sache auf meine Kappe“, sagt Renkwitz. Und hat Mühe, plausibel zu erklären, warum er erst jetzt, fast zwei Jahre später, noch einmal tätig wird, um das Protokoll genehmigen zu lassen. Er führt private Gründe an. Klar, die haben sein Leben belastet. Aber dass er, auch nach wiederholter Rückmeldung von Udo Brandt schon vor Monaten, nicht die fünf, sechs Stunden Zeit gefunden hat, um Versäumtes nachzuholen, ist nicht zu verstehen. „Es ist einfach bei mir hinten runtergefallen“, sagt Renkwitz mit schlechtem Gewissen. Und verspricht, das Protokoll in naher Zukunft nachzureichen.
Udo Brandt atmet am Telefon schwer durch. „Das ist die absolute Ausnahmegenehmigung – aufgrund besonderer Bedingungen“, sagt der 67-Jährige, für den als Vermessungsingenieur im Ruhestand schon von Berufs wegen immer Genauigkeit und Pünktlichkeit wichtig waren. Normalerweise muss ein Protokoll vor einer Veranstaltung beim DLV vorliegen. Manchmal, zum Beispiel wegen einer ganz kurzfristigen Streckenänderung, reicht die Zeit zwischen Vermessung und Lauf nicht für eine Genehmigung – dann wird sie ein paar Tage später erteilt. Aber zwei Jahre? Eigentlich gehe das nicht, betont Brandt. Sein Herz schlägt aber für die Läufer wie René Anselment – und deshalb drückt er knurrend beide Augen zu.
Marathon und Vermesser sind nicht existent
Bis Montag dieser Woche waren die Daten bei Brandt noch nicht eingegangen. „Für mich existiert der Bremen-Marathon nicht“, sagt er ganz pragmatisch. Übrigens existieren für den Vermesser auch der Halbmarathon und die 10 Kilometer nicht, weil die Zertifikate abgelaufen sind. Eine einmal erteilte Genehmigung gilt für fünf Jahre, wenn sich der Streckenverlauf nicht verändert hat. Bei gleicher Strecke kann der Veranstalter zweimal eine Verlängerung um fünf Jahre beantragen. Ändert sich auch nur der kleinste Streckenabschnitt, muss neu vermessen werden – oder die Bestenlistentauglichkeit ist futsch.
Weil in diesem Jahr im Zuge der Bremer Veranstaltung die deutschen Polizeimeister ermittelt werden und es im Vergleich zum Vorjahr in der Überseestadt auf jeden Fall wieder eine Änderung geben wird, muss erneut vermessen werden. „Das wird auch geschehen“, verspricht Veranstaltungschef Utz Bertschy – nicht nur wegen der Polizeimeisterschaft, sondern auch, weil er es im Interesse der Sportler unbedingt so will. Als ehemaliger Läufer weiß Bertschy um deren Begehrlichkeiten. Weil Renkwitz verspricht, das Protokoll von 2017 nachzureichen und für die anderen beiden Strecken die Verlängerung der Genehmigung zu beantragen, könnte also alles gut werden für die Teilnehmer, die mit ihren Ergebnissen Eingang in Bestenlisten finden möchten.
Die Laufszene wird die Entwicklung beobachten. Und sie interessiert sich dafür, ob Missstände des vergangenen Jahres diesmal beseitigt sein werden. So gab es Probleme an Verpflegungsständen. Mal gingen Getränke zu schnell zur Neige, mal gab es zu große Gedränge. Besonders schwierig war die Situation an einem Stand im Bürgerpark, wo Halbmarathonis nach fünf Laufkilometern und Marathonis nach mehr als 25 Kilometern aufeinandertrafen, und am Universum. „Wir denken immer darüber nach, eventuell zwei Stände an einem Ort anzubieten“, sagt Bertschy.
Klar ist: Der ambitionierte, auf eine gute Zeit bedachte Läufer will sich an einer Station nicht lange aufhalten müssen. Schon gar nicht möchte er nach seiner Verpflegung suchen müssen, wie es im Vorjahr an Ständen mit sogenannter Eigenverpflegung vorkam. Sportler nutzen immer häufiger die Möglichkeit, am Vortag einer Veranstaltung Behälter mit selbst zubereiteten Getränken abzugeben. Entsprechend auffällig gekennzeichnet, finden die Teilnehmer ihren persönlichen Behälter relativ schnell – vorausgesetzt, der Veranstalter stellt die Behälter ordentlich auf einen Tisch und nicht, wie in Bremen geschehen, unordentlich irgendwo auf den Boden. „So etwas geht gar nicht“, sagt auch Utz Bertschy und hofft, dass es am 6. Oktober besser klappt.
Die Vermessung der Stadt
Das Vermessen einer Marathonstrecke ist nicht nur teuer, sondern auch sehr aufwendig. Auf einer annähernden Ideallinie werden die 42,195 Kilometer abgefahren – nach einem genau festgelegten Verfahren, per Fahrrad mit geeichter Messtechnik. Da die Strecke in Bremen auf Straßen mitten durch die Stadt führt, findet die Vermessung nachts und in Begleitung von der Polizei statt. Die Erstellung des Protokolls dauert mehrere Stunden, danach müssen es die Beauftragten des Deutschen Leichtathletik-Verbands noch genehmigen. Weil Laufstrecken wegen des weltweit gültigen Verfahrens inzwischen sehr gut vergleichbar sind, gibt es seit 2004 auch im Marathon Weltrekorde und nicht mehr nur Weltbestzeiten.