Der Rucksack war schwer. 25 bis 30 Kilo, schätzt Karina Schönmaier, dazu noch das Gewehr. Zehn Kilometer lang musste sie das Zeug durch den Matsch schleppen, es regnete. Nach fünf Kilometern gab es einen Zwischenstopp, es musste ein Zelt aufgebaut werden, dann wurde mit dem Gewehr geschossen. Die junge Frau hatte das noch nie gemacht, und sie sagt noch vier Monate später darüber: „Das hat sich so krass angefühlt.“
Grundausbildung beim Militär: Seit einem guten halben Jahr ist Karina Schönmaier, Bremens und womöglich sogar Deutschlands größtes Turntalent, Mitglied der Sportkompanie der Bundeswehr. Sie bekommt ihren Sold, inzwischen als Obergefreiter – und kann deshalb am Olympiastützpunkt Chemnitz unter professionellen Bedingungen ihren körperlich wie mental herausfordernden Sport ausüben. Die Woche beinhaltet 25 Trainingsstunden, mindestens.
Der Rucksack-Marsch, die Schießübungen, überhaupt die ganze vierwöchige Grundausbildung bei Hannover: Es sei eine coole Erfahrung gewesen, sagte die mittlerweile 18 Jahre alte Bremerin. Sie sagt jetzt wieder häufiger „cool“ und „krass“, und das ist, nun ja: ein gutes Zeichen. Denn im übertragenen Sinn hatte sie ein ganzes Jahr lang einen Rucksack mit sich herumgeschleppt. „Ich habe“, bekennt sie, „ungefähr ein ganzes Jahr gebraucht, um zurückzufinden.“ Zurück zu sich selbst, ist damit gemeint. Zurück zu jenem Selbstverständnis, eine außergewöhnlich begabte Kunstturnerin zu sein, die mal bei Olympia starten und die Weltelite kapern will.
Um es verknappt und vereinfacht darzustellen: Nach ihrem von inneren und äußeren Konflikten begleiteten Wechsel von Bremen nach Chemnitz war sie in ein bedenklich tiefes Loch gefallen. Selbstzweifel, Gewichtszunahme, Leistungsabfall. In der Bremer Sportszene fehlte es nicht an düsteren Prognosen. Mit dem Tenor, dass es traurig und schade sei, wie eine solch Hochbegabte so schnell so tief sinkt. Dass es wohl nix mehr wird mit großen Auftritten auf großer Bühne. Die waren trotz der eigentlich nicht konkurrenzfähigen Bedingungen in der maroden Huchtinger Turnhalle erstaunlicherweise von Jahr zu Jahr wahrscheinlicher geworden. Karina Schönmaier, wieder vereinfacht dargestellt, hatte Stress bekommen mit ihrer Bremer Trainerin, Stress mit dem TuS Huchting. Sie fremdelte mit der Pflicht, in Chemnitz frühmorgens eine Berufsschule besuchen zu müssen. Fremdelte auch mit den harten Trainingsbedingungen am sächsischen Leistungsstützpunkt. Sie haderte mit sich. Am Olympiastützpunkt bot man ihr Termine bei einer Psychologin an.
Karina Schönmaier sagt rückblickend, dass ihr mehr als die Sitzungen bei der Psychotherapeutin sie sich selbst geholfen habe. Das Einzige, was ihr geholfen habe, sei der Glaube an sich selbst gewesen, an ihr Talent, an ihre Stärke. Womöglich aber haben die Sitzungen genau das getriggert, wie man in solchen Fällen gerne sagt. „Ich war immer so negativ, und ausreichend selbstbewusst bin ich immer noch nicht“, sagt die Turnerin. Aber der „ganze Stress von vor einem Jahr, der ist jetzt weg.“
Im Dezember begann sie damit, was ein Jahr lang nicht gelang. Sie übte für ihr Paradegerät, den Sprungtisch, ein neues, noch schwierigeres, noch höher eingestuftes Element ein. „Normalerweise", erzählt sie nicht ohne Stolz, würden Turnerinnen dafür ein bis zwei Jahre brauchen. Sie brauchte drei Monate. Dann zeigte sie es beim großen DTB-Pokal in Stuttgart, bei dem sie als Mitglied der deutschen Auswahl im Mixed-Wettbewerb angetreten war. Erstmals stand sie in einem gemeinsamen Team mit Männern. Auch das konnte sie „als sehr coole Erfahrung“ erleben. Sie sei jetzt, sagt sie, „wieder auf dem Level, auf dem ich vor dieser schlechten Zeit war.“ Die Phrase „Das Lachen ist zurück“ bietet sich an. Die Phrase von der Zeit, die die Wunden heilt, biete sich für das im Vorjahr so ramponierte Verhältnis zu ihrer Bremer Turn-Heimat an. Das Verhältnis zum alten Umfeld sei distanzierter geworden, aber es sei nicht mehr so ramponiert.
In Stuttgart brachte das neue Sprungelement noch nicht die höchstmögliche Wertung. Dem Kampfgericht waren die Beine nicht gestreckt genug bei der Landung. Aber das Potenzial der Karina Schönmaier, das konnte die Fachwelt wieder sehen. Das sieht auch der Bundestrainer so. Er wird die Bremerin eventuell für die Europameisterschaften nominieren, die Ende April im italienischen Rimini ausgetragen werden. Am 6. und 7. April findet dafür in Frankfurt/Main das erste deutsche Qualifikationsturnier statt. Im Rahmen der Turn-Bundesliga folgt eine Woche später das zweite.
Die beiden derzeit besten deutschen Turnerinnen, Pauline Schäfer-Betz und Sarah Voss, lassen die EM aus. Sie stehen bereits fest als deutsche Starterinnen in den Einzel-Wettbewerben für Olympia, die Mannschaft hatte sich nicht für Paris qualifizieren können. Ein dritter deutscher Startplatz für Paris ist noch frei. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihn Elisabeth Seitz bekommt oder Emma Malewski ist aktuell höher als jene, die es für eine Nominierung von Karina Schönmaier gibt. Aber sie will sich stellen. Mit dem Hintergedanken: „Ich bin ja noch jung“. Wenn es 2024 nix werde mit dem Olympiatraum, dann eben 2028. Jetzt sagt sie wieder solche Sätze, wie vor zwei Jahren – und vor einem Jahr überhaupt nicht mehr.