Die Belastung ist hoch. Jeden Morgen, so erzählt es die Spitzenturnerin Karina Schönmaier, muss sie um sechs Uhr aufstehen. Eine Stunde später fährt der Bus zur Berufsschule ab, halb neun geht's in Chemnitz dann zurück zum ersten Training am Bundesstützpunkt (BSP). Vor rund vier Monaten ist die 17-Jährige, hochtalentiert und zuletzt WM-Starterin, in den Süden Sachsens gewechselt. Der Trainingsumfang hat sich verdoppelt, auf 25 Wochenstunden. Doch es sind nicht so sehr die körperlichen Anstrengungen, die der Bremer Sportlerin des Jahres 2021 zusetzen. Der Satz kommt eigentlich zu lapidar daher, aber er beschreibt ihre aktuelle Situation recht präzise: Es geht ihr nicht gut, nicht wirklich. "Manchmal kommen Tränen im Training", sagt sie.
Sie kämpft dagegen an. Sie wolle sich nicht hängenlassen im Training, auch wenn sie zugenommen habe, nicht ausreichend schlafe und ihr derzeit Kraft und Konzentration fehle, um neue Elemente einzustudieren. Sie will ja besser werden, sie will ihren Platz im A-Team der Nationalmannschaft halten. Sie will weiterkommen auf dem Weg zu ihrem großen Ziel: Olympia 2024 in Paris. "Ich muss Leistungen zeigen, aber ich kann's gerade nicht. Ich mache mir selbst so viel Druck", sagt sie. In der kommenden Woche geht es zum Lehrgang der Nationalmannschaft in Frankfurt, da wird entschieden, in welchem Team sie am Wochenende beim DTB-Pokal in Stuttgart an die Geräte gehen darf.
In Chemnitz hat Karina Schönmaier das Angebot sportpsychologischer Betreuung wahrgenommen. Der BSP ist an einen OSP gekoppelt, einen Olympiastützpunkt. Zum OSP-Profil gehört auch die in den mentalen Bereich zielende Unterstützung. Die Psychologin, sagt Karina Schönmaier, sage ihr: Was sie so bedrückt, sei nicht ihre Schuld. Auf der rationalen Ebene funktioniere das ganz gut. Es helfe ihr. Auf der emotionalen Ebene funktioniere es jedoch nicht, noch nicht. "Ich bin innerlich so verletzt", sagt sie, "ich hoffe, dass einfach endlich wieder Frieden herrscht." Das ist, wenn man so will, ihr größter innerer Halt im Moment: Die Zeit, die Wunden heilen kann. Noch so ein lapidarer wie wichtiger Satz für sie. "Ich denke, dass Zeit vergehen muss", sagt sie.
Dass der Weggang aus Bremen ein harter Schnitt werden würde, hatte sich schon im vergangenen Sommer abgezeichnet. Beim TuS Huchting hatte sie einen vertrauten wie stets helfenden Verein, mit Katharina Kort eine hoch engagierte Trainerin und ansonsten vergleichsweise steinzeitliche Bedingungen. Ende August hatte die Mutter der Athletin, nach Darstellung des Vereins unabgestimmt, ein Probetraining am BSP Chemnitz arrangiert. In der Folge verhakte sich das Beziehungsgeflecht zwischen Mutter, Trainerin und Verein immer mehr. Der Versuch von Verein, Schule und Trainerin, eine Art Bremen-Chemnitz-Modell hinzubekommen, mit Training in Chemnitz, Online-Beschulung in Bremen, Startrecht für TuS Huchting: scheiterte.
Die – auch nach Darstellung des Vereins – mündliche Vereinbarung, dass Trainer- und Physiotherapie-Stunden, bislang kostenlos, nun von Karina Schönmaiers Fördergeld im Bundeskader bezahlt werden müssten: mündete in eine Eskalation, die niemand wollte. Dem Verein flatterte ein Anwaltsschreiben ins Haus, mit einer Unterlassungsklage. Unterschrieben von der Mutter der Turnerin, im Namen ihrer noch nicht volljährigen Tochter. "Das hat uns gekränkt und enttäuscht", sagt Sven Kienke, Abteilungsleiter beim TuS, "da ist eine rote Linie überschritten worden." Karina Schönmaier, auf deren Leistungen man so stolz sei und für die man im Rahmen der bescheidenen Möglichkeiten alles versucht habe zu ermöglichen, sei instrumentalisiert worden. Kienke erteilte Schönmaier Hallenverbot, er sah sich aufgrund des Schreibens dazu gezwungen.
Mit diesem mentalen Rucksack schleppt sich die Olympiahoffnung nun in Chemnitz herum. "Wir merken ja auch, dass Karina dadurch psychisch beeinträchtigt wird", sagt BSP-Leiter Matthias Hänel. Auch der neue Trainer, Anatol Ashurkou, spüre das. Bundestrainer Gerben Wiersma nahm die Bremerin kurzfristig aus dem Team für den Weltcup in Doha heraus. "Weil ich nicht fit bin und Stress habe", sagt die Bremerin. Sie spricht mit bemerkenswerter Offenheit über ihren Stress, das könnte ein erster Anfang sein auf dem Weg zurück in die gewünschte Spur.
Auf diesem, um im Bild zu bleiben, womöglich sehr steinigen Weg ist sie nicht allein. Sie hat, anders als zuvor in Bremen, Turnerinnen auf ihrem Leistungsniveau um sich herum. Das gebe auch bisweilen Zickenkrieg, sagt sie, das sporne aber auch an und würde sie pushen. Ihr Trainer versuche, sie aufzubauen. Er sage, sinngemäß: Das wird schon noch. Nicht die nächste deutsche Meisterschaft ist das Kriterium. Rechtzeitig fit sein für Olympia, nur das zähle. Es helfe, dass sie sich auch auf Russisch mit ihm verständigen kann. Auch beim zuständigen Verband, dem Deutschen Turner-Bund (DTB), versucht man, keinen zusätzlichen Druck aufzubauen und die Athletin nicht zu früh fallenzulassen. Für ein Fazit zum Wechsel von Bremen nach Chemnitz sei es noch viel zu früh, sagt DTB-Sportdirektor Thomas Gutekunst. Auch Sven Kienke dementiert, dass der DTB die Turnerin zu sehr gedrängt habe, an einen BSP zu wechseln. Wenn keine weiteren Anwaltsschreiben eintreffen, werde der TuS Huchting keine weiteren Schritte einleiten – und auch keine Mahnungen schicken für unbezahlte Trainerstunden.
Und dann ist da noch die Aussicht namens Bundeswehr. Erste Gespräche habe es bereits gegeben, berichtet Karina Schönmaier. Sie hat einen Realschul-Abschluss und könnte ab dem Sommer Mitglied der Sportkompanie der Bundeswehr werden. Quasi als Turnprofi, besoldet durch Mittel des BMI (Bundesministerium des Inneren). Am 4. August, in weniger als fünf Monaten, wird Karina Schönmaier volljährig.