Herr Messner, wann haben Sie zum letzten Mal einen Berg erklommen?
Reinhold Messner: Das ist noch nicht lange her. Das war Ende Januar, in Sulden am Ortler (Skiort in Italien, d. Red.). Ich habe dort eine Winterwohnung und bin auf den nächsten Hügel gestiegen. Also, für mich ist das ein Hügel (Der Ortler ist knapp 4000 Meter hoch, d. Red.). Aber im Winter mit seinen eisigen Verhältnissen ist das eine schöne Tour, um einigermaßen seine Kondition zu halten.
Sie sagen: ein Hügel. Der Flachländer sagt: oha!
Ich würde sagen, das ist die Tour eines Sonntagsbergsteigers. Ich werde in diesem Jahr 80 Jahre alt. Es wäre dumm von mir, zu denken, ich kann immer noch das schaffen, was ich mit 30, 40 oder auch noch mit 50 gemacht habe. Mehr oder weniger habe ich mit 60 die letzte wirklich extreme Tour gemacht. Eine Tour an der Grenze zwischen möglich und unmöglich. Danach habe ich mich mit kleineren Touren und vor allem mit ganz neuen Projekten beschäftigt. Neue Sachen angehen, das habe ich schon in früheren Jahren gemacht.
Zum Beispiel?
Ich habe in meinem Leben generell immer wieder umgesattelt von einem Tun ins andere. Das Höchstklettern habe ich schon mit 25 hintenan gestellt, weil ich Zehen verloren habe und nicht mehr gut klettern konnte.
Was hat sich im Laufe der Zeit schneller verändert? Die Motivation für eine Bergbesteigung oder die Art, wie Sie die Herausforderungen erleben?
Interessante Fragestellung: Am meisten verändert hat sich überhaupt dieses Tun. Das Bergsteigen hat sich so radikal verändert, dass es nicht mehr vergleichbar ist mit dem, was ich früher zum Glück machen konnte. Ich bin in der bestmöglichen Zeit hineingewachsen in diese Abenteuer. Ich bin ein Abenteurer gewesen.
Und heute?
Heute ist mein Fokus das Fertigmachen des Museums. Das will eigentlich nicht ich sagen, das müssten eigentlich andere sagen jetzt: Das Projekt 'Messner Mountain Museum' (sechs Standorte in Südtirol, d. Red.) ist das wichtigste Bergmuseum der Welt. Ich habe daran 30 Jahre lang gearbeitet und all meine Erfahrungen und Erlebnisse hineingesteckt. Auch schon weitergegeben an meine große Tochter, die das Museum weiterführen soll über meinen Tod hinaus. Das beschäftigt mich genauso intensiv wie früher die hohen Berge oder die Sand- und Eiswüsten.
Das Bergsteigen von heute ist nicht mehr das von früher...
...das Klettern, das ich zum Beispiel noch ausschließlich an den großen Dolomitenwänden gepflegt habe, das findet heute in der Halle statt. Klimatisiert, 15 Meter hoch, Plastikwände, Plastikgriffe. Es ist ein großartiger Sport, hat aber mit Abenteuer nichts mehr zu tun. Und was an den großen Bergen passiert, ist Tourismus. Die Berge werden präpariert für Massenaufstiege. Hunderte Sherpas bauen eine Piste. Eine Straße, damit die Leute gut betreut und ohne Gefahr hinaufgebracht werden. Bis hinauf zum Gipfel des Mount Everest.
Hätten Sie sich solch eine Entwicklung vorstellen können, als Sie anfingen?
Vor 30 Jahren konnte ich mir das noch nicht vorstellen. Dann habe ich langsam gemerkt, dass sich etwas verändert. Dass Klettern olympisch wurde, dass es Weltmeisterschaften gibt und Millionen Menschen am TV zuschauen, das finde ich großartig. Ich bin nicht dagegen. Aber es ist nicht das, was das Klettern in der Wildnis ist. Da kann die Natur jeden Tag wieder anders sein, es gibt Wetterumstürze, es kann extrem kalt werden. Klettern in einem klimatisierten Raum, das ist eine andere Welt.
Würde Sie heute auch Kletterer werden, wenn Sie noch mal jung wären?
Es ist nicht meine Tätigkeit, es ist nicht mein Sport. Ich habe vor 30 Jahren mit diesen Museen, mit meinen Vorträgen rund um die Welt angefangen zu erzählen, was eigentlich traditioneller Alpinismus ist. Ich bin heute sehr froh und auch stolz, dass mir das gelungen ist. Es geht nur über das Narrativ der ganzen Entwicklung der Bergsteigerei. Sonst werden wir den traditionellen Alpinismus, also das Hinausgehen in eine ungezähmte Wildnis, nicht retten können.
Können Sie dieses traditionelle Bergsteigen mal definieren?
Es ist die Kunst, zwischen Durchkommen und Umkommen unterwegs zu sein. Die Kunst, dort zu überleben, wo der Mensch nicht hingehört. Das Ganze ist auch nutzlos und angesichts der großen Gefahren sogar absurd. Aber es hat eine riesige Faszination zu bestehen, wie Steinzeitmenschen in der Wildnis bestanden haben. Sonst wäre die Menschheit ausgestorben.
Nutzlos einerseits, menschheitsprägend andererseits – größer kann ein Widerspruch kaum sein...
...wichtig ist zu verstehen: Wir traditionellen Bergsteiger, wir machen uns das wichtig. Es ist unwichtig, es ist nutzlos, aber wir machen es uns sinnvoll. Wir erwarten nicht, dass der Sinn von außen kommt, dass er vom Himmel fällt. Zwischen Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit ist eine unendlich große Spalte. Etwas kann völlig unnütz sein, aber für mich doch das Wichtigste. Ich habe mir immer neue Aufgaben gesucht. Nach dem Höhenbergsteigen habe ich die Polregionen besucht, habe die Antarktis durchquert und Grönland der Länge nach. Und hatte das Glück – und auch die Vorsicht, das zu überleben. Viele andere haben das leider nicht überlebt.
Was ist bei all den Extremtouren die stärkste Erinnerung geblieben?
In erster Linie bleibt dieses Spannungsgefühl, weit draußen auf sich selbst gestellt zu sein. Stellen Sie sich vor: Sie klettern in den Dolomiten 1000 Meter hoch über dem Boden, unter ihnen ist nur Luft. Und jetzt kommt ein Wetterumschwung. Sie sind völlig auf sich allein gestellt. Sie oder ihre kleine Gruppe, mit der sie unterwegs sind, sind in eine Welt hineingeworfen, die gefährlich ist. Die Natur ist unerbittlich. Und wir versuchen, da zu bestehen. Wenn wir da wieder raus sind, dann haben wir das Gefühl, wiedergeboren zu sein. Und den Wunsch, das nochmals und nochmals zu erleben.
Ist es wie eine Sucht?
Nein. Ich weiß, dass viele Psychologen das so zu beschreiben versuchen. Wenn das eine Sucht wäre, dann würde ich heute nicht an der Nadel hängen, aber sozusagen an der Unmöglichkeit, das noch machen zu können. Ich habe halt eines schönen Tages bemerkt: Wenn du das weiter so betreibst und ausreizt, dann überlebst du das nicht. Ich wollte überleben und wollte meine Erfahrungen mitnehmen in ein nächstes Leben.
Können Sie mal die Metamorphose beschreiben, die man bei der Besteigung eines Achttausenders durchlebt?
In der Zivilisation ist alles abgesichert und präpariert. In der Wildnis ist die Natur so geblieben, wie sie ist. Sie ist absichtslos. Sie will uns nix Böses, sie ist nur da. Wenn wir jetzt die Absicht haben, diesen Berg zu besteigen, treten wir spätestens dort, wo die Zivilisation aufhört, in einen anderen Aggregatzustand ein. Wir sind aufmerksam, voll konzentriert auf die Gefahren und das Ziel. Sie kriechen in ein Zelt und müssen im Halbschlaf aufpassen, ob nicht irgendwo Steine runterkommen.
Und dann, wenn Sie in die sogenannte Todeszone kommen, wo der Sauerstoff knapp wird?
Da ist dann nur noch ein Drittel Sauerstoff da von der Menge, die wir normalerweise brauchen. Durch diesen Mangel wird der Berg für uns größer. Er scheint uns immer weiter zu wachsen. Wir werden langsamer und langsamer. Ein Schritt, Pause, wieder ein Schritt. Es ist eine höllische Schinderei. Die meisten scheitern an der Verzweiflung, dass dieser Berg einfach zu groß ist.
Es spielt sich extrem viel im Kopf ab?
Das Hauptsächliche sogar. Die mentale Kraft entscheidet, ob ich da raufkomme oder nicht. Die physische Voraussetzung muss natürlich da sein, man muss trainiert sein. Aber ich bin in keiner Weise besser gebaut als andere. Mein Körper ist ganz normal, das ist x-mal untersucht worden. Willenskraft kann man trainieren, wie einen Muskel.
Ihr Vortag am 20. Februar in der Bremer Glocke trägt den Titel 'Nanga Parbat - mein Schicksalsberg'...
...ich sage lieber: Schlüsselberg. Schicksalsberg ist ein Ausdruck aus den 1930er-Jahren, den ich nicht gerne benutze. Damals hatte man ihn als Schicksalsberg der Deutschen bezeichnet, weil es so viele Tote gab. Mehrere Expeditionen scheiterten. Ich habe den Nanga Parbat zweimal bestiegen, einmal alleine, einmal mit einer Gruppe. Wir haben dort die höchste Wand der Welt bestiegen. Mein Bruder ist dort ums Leben gekommen, 35 Jahre später ist er gefunden worden. Man hat einen richtigen Rufmord mir gegenüber daraus gemacht. Aber das erzähle ich nur am Rande. Ich erzähle vor allem die ganze Historie. Und was dieser Berg für mich bedeutet.
Bezieht sich die Bezeichnung als Schlüsselberg auf den Tod Ihres Bruders?
Das ist so, ja. Eindeutig. Und dann, weil ich ihn später im Alleingang bestiegen habe. Das war noch mal eine ganz andere Dimension.
Wenn Sie, wie in Bremen, auf Ihren Vorträgen von Ihren Expeditionen erzählen: Ist das auch eine Form der Verarbeitung?
Nein, das ist bei mir schon verarbeitet. Das ist auch keine Sensationshascherei.
Sondern?
Es ist der Versuch, eine Tatsachengeschichte so zu erzählen, dass sie auch jene nachempfinden können, die nie etwas Höheres als einen Barhocker bestiegen haben. Zu meinen Vorträgen kommen nicht in erster Linie Alpinisten, sondern Menschen zwischen Kind und Greis, von Hausfrau bis Akademiker. Für mich geht es um die Erzählkunst. Der Alpinismus, so wie ich ihn betrieben habe, das ist zum Teil Storytelling (englisch für: Geschichtenerzählen, d. Red.) und zum Teil Aktion. Das Narrativ ist mir ebenso wichtig wie das Tun. Darum bin ich immer noch gerne Vortragsredner.