Es ist nicht eben überraschend, dass Anatoli Trubin das jetzt so sagt. Er ist 21, er ist der Torwart bei einem Champions-League-Klub und in der Nationalmannschaft, er gilt als eines der größten Talente seines Landes – und sitzt in der gepflegten Lobby eines Bremer Hotels. "Das war einer der schlimmsten Tage in meinem Leben", sagt er im Interview mit dem WESER-KURIER. Er habe nicht gewusst, wie es weitergehen soll. Was ist jetzt mit Fußball? Was ist jetzt mit meinem Leben? Diese Fragen seien durch seinen Kopf gesaust. "Mein Leben hat angehalten in diesem Moment", sagt er.
Anatoli Trubin spricht vom Kriegsbeginn am 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel. Die ganze Ukraine. Er stammt aus Donezk, er ist der Stammkeeper von Schachtjor Donezk. Als 2014 Putins Truppen die Krim besetzten, als die von Russland geschürten Unruhen in der Region Donezk begannen, sah sich der Klub Schachtjor zum Umzug nach Kiew gezwungen. Seitdem lebe er in der Hauptstadt, wie auch seine Mutter und seine Schwester, erzählt der Torwart. Die Großeltern und andere Verwandte sind weiterhin in Donezk. Schachtjors Heimspiele in der nationalen Liga werden in Kiew, die in der Champions League in Warschau ausgetragen.
Anatoli Trubins Fußballleben nach dem russischen Überfall ist weitergegangen. Er spielte mit Schachtjor in der Königsklasse, besiegte dabei RB Leipzig mit 4:1, hielt bis zum Ausgleich in der 96. Minute eine 1:0-Führung gegen Real Madrid fest – und ist an diesem Montag im Weserstadion mit der ukrainischen Nationalmannschaft der Gegner der DFB-Auswahl in deren 1000. Länderspiel (18 Uhr/ZDF). Vor Kurzem hat Schachtjor vorzeitig seinen 14. Meistertitel in der "Premjer Liha" errungen, der Klub darf auch in der kommenden Saison in der Champions League antreten. Trubin träumt, "wie eigentlich alle", von einem Angebot aus einer der europäischen Top-Ligen, vielleicht der Bundesliga, vielleicht der Premiere League in England. "Wenn ich die Chance bekäme, würde ich mich da gern zeigen", sagt er.
Dass es diese Fußballträume weiterhin gibt, gehört zum Signal, das von diesem besonderen Spiel am Montag ausgehen soll. "Dieses Spiel ist vor allem ein politisches Zeichen", sagt Sergej Rebrov, der neue Nationaltrainer, im Gespräch mit dem WESER KURIER. Man wolle zeigen, was für einen Charakter die ukrainische Nation habe. "Einen starken", sagt Rebrov. "Wir wollen zeigen: Wir leben noch, unser Land kämpft weiter für seine Freiheit", sagt er. Sein junger Torwart sagt: Schon vor dem Krieg sei es eine große Ehre gewesen, im ukrainischen Nationaltrikot aufzulaufen. Er sagt: "Jetzt wollen wir der ganzen Welt zeigen: Die Ukraine ist immer noch da!" Sie seien stolz, sagen beide, das in einem Spiel gegen Deutschland zeigen zu können. "Deutschland ist für mich einer der wichtigsten Unterstützer", sagt Sergej Rebrov. Am Montag könne man dieses Zeichen setzen, dass man zusammenstehe in diesen Zeiten.
Im Alltag sind diese Zeiten "sehr schwierig", wie Anatoli Trubin zugibt. In den vergangenen Monaten hätte es wieder permanent Luftangriffe gegeben, fast jede Nacht. Das Team von Schachtjor Donezk, das vor 14 Jahren Werder Bremen im Finale des UEFA-Cups besiegt hatte, könne eigentlich nur am frühen Nachmittag trainieren. Später gebe es ständig diesen Lärm der Raketen und Drohnen. "Du wirst immer wieder aus dem Schlaf gerissen", sagt Anatoli Trubin, da sei es schwierig, seine Form auf dem gewünschten hohen Niveau zu halten. Ja, wenn er auf dem Platz stehe, dann sei nur das Spiel in seinem Kopf. Das sei auch gut so. Wenn er den Platz verlasse, komme der Krieg zurück in den Kopf.
Krieg statt Frieden als Alltagssituation. Sergej Rebrov ist wichtig zu betonen, dass sich die Menschen in der Ukraine davon nicht unterkriegen lassen wollen. Am Anfang hätte allerorts eine große Furcht geherrscht. "Aber wir fürchten uns nicht mehr, wir kämpfen", sagt der 75-fache Nationalspieler seines Landes, der wie auch Werders Ex-Profi und -Trainer Viktor Skripnik 1997 im Weserstadion im Spiel gegen Deutschland aufgelaufen war, das Deutschland 2:0 gewann. Nach einem Engagement als Trainer in den Emiraten ist Rebrov zuletzt zurückgekehrt in seine Heimat. Er lebe jetzt in Kiew, sagt er.
Dass in Kiew trotz Luftalarm und Raktenbeschuss auch das sogenannte normale Leben weitergelebt werden kann, wissen Rebrov wie Trubin sehr zu schätzen. Dass Leute ins Büro, ins Café, ins Restaurant gehen können oder eben er zum Fußballtraining, sei seinen neuen Superhelden zu verdanken, sagt Anatoli Trubin. Früher wären für ihn, als Kind des Sports, Weltmeister, Weltrekordler oder Ironman-Champions die Superhelden gewesen. "Jetzt sind es unsere Soldaten", sagt er. Mithilfe der Unterstützung aus dem Westen würden sie es ermöglichen, dass er seine Sportträume weiterträumen kann. Er ist doch noch nicht einmal 22.