Das Frühjahr ist ganz gut für schnelle Zeiten auf den langen Strecken, es ist noch nicht zu heiß. Bremens beste Langstreckenläuferin, Carolin Kitzel vom SV Werder, hatte sich ordentlich was vorgenommen fürs Frühjahr. Sie wollte bei den deutschen Meisterschaften über 10.000 Meter unter 34 Minuten bleiben, sie wollte sich für die Finals in Berlin qualifizieren, um im Berliner Olympiastadion über 5000 Meter antreten zu dürfen. Das Frühjahr brachte jedoch nur eine lange Strecke von Enttäuschungen: Verletzungen, Corona-Infektion, abgebrochene Wettkämpfe. Kein Start im Olympiastadion.
Carolin Kirtzel beschloss Anfang Juni, eine Wettkampfpause einzulegen. Doch bevor sie kommende Woche in einen Kurzurlaub bei einer alten Lauffreundin nach England fliegt, wollte sie noch ein paar kleine Wettkämpfe bestreiten. Und siehe da, es lief so gut, wie es im Frühjahr hätte laufen sollen. Beim Verdener Stadtlauf war sie auf dem anspruchsvollen, weil kurvenreichen Kurs nach 34:39 Minuten im Ziel, sechs Minuten eher als die Zweite. In Oldenburg lief sie in einem gemischten 3000-Meter-Rennen bis auf den Sieger allen Männern davon und pulverisierte in 9:09,73 Sekunden den Bremer Landesrekord.
Zuletzt pulverisierte sie auch die fast 30 Jahre alte Bremer Bestleistung über 5000 Meter, als sie bei einem Sportfest im belgischen Beersel 16:04,04 Minuten rannte. Und womöglich wird sie an diesem Sonnabend bei der Berliner Runner's City Night auf dem Ku'damm auch den Bremer Rekord im 10-Kilometer-Straßenlauf unter 34 Minuten drücken. Diesen Rekord, der bei 34:03 Minuten steht, hatte sie selbst im letzten Oktober aufgestellt, kurz nachdem sie zum SV Werder nach Bremen gewechselt war.
Die 27 Jahre alte Referendarin ist ein gutes Beispiel dafür, welch kolossale Wucht die Leidenschaft Laufen haben kann. "Wenn ich diese Leidenschaft nicht hätte, dann hätte ich schon längst aufgehört", sagt sie. Laufen gibt ihr viel, sie hat auch wieder angefangen damit, nachdem sie im vergangenen Jahr in Folge einer Krebserkrankung mehrfach operiert werden musste. Der halbe Dickdarm musste entfernt werden. Die Narbe beeinträchtigt, vereinfacht gesagt, die Kraft und Stabilität der Bauchmuskulatur, wird wahrscheinlich für immer ein Schwachpunkt sein. Doch all die Rückschläge, die es vor und auch in den Wettkämpfen zuletzt gab, haben Carolin Kirtzel nicht davon abgehalten, wieder einen neuen Anfang zu nehmen. Sie ist ein Leichtgewicht, aber man darf wohl behaupten: Sie ist eine starke Frau.
Trotz geringer Trainingsumfänge lauft sie Zeiten wie keine Zweite in Bremen. "Ich habe nie daran gezweifelt, ob ich es vom Leistungsvermögen her erreichen kann", sagt sie über das Frühjahr, als sie zu den Wettkämpfen nicht antreten konnte oder die Rennen abbrach. Es klingt fast paradox: Sie hat Vertrauen zu ihrem Körper, der sie schon ein paarmal im Stich gelassen hat. Sie hat Ausdauer im doppelten Wortsinn. Diese Beharrlichkeit hat sich ausgezahlt. Seit zwei Wochen, sagt sie, klappe quasi beides: gute Form, keine Beschwerden. Vor allem auf die schnelle 3000-Meter-Zeit von Oldenburg sei sie sehr stolz, das sei deutlich schneller als erhofft und "eine schöne Bestätigung" gewesen.
Eine vorläufig letzte schöne Bestätigung soll nun auf dem Berliner Kurfürstendamm folgen. Der Kurs ist flach und schnell. "Ich will mich nicht zu sehr unter Druck setzen", sagt Carolin Kirtzel. Aber dass sie eine 33-er Zeit richtig cool finden würde, hat sie nicht dementiert.