Frau Ödén, wie reagieren die Leute, wenn Sie ihnen erzählen, dass Sie beim Zirkus arbeiten?
Clara Ödén: Sehr unterschiedlich, aber ich glaube, viele haben immer noch das klassische Bild von einem Wanderzirkus im Kopf. Dann sehen sie das Zelt unserer Zirkusschule und der Gedanke verfestigt sich. Viele denken, dass man entweder zaubert oder Clown ist. Dass es Sport ist, ist zum Teil noch nicht so angekommen.
Wie funktioniert eine Zirkusschule?
Es ist im Grunde ein Verein wie andere Sportvereine auch. Nachmittags gibt es Stunden für Kinder und Jugendliche. Dann gibt es verschiedene Kurse nach Alter, auch für die ganz Kleinen. Ich gebe einen Kurs, der ist ab vier Jahren. Da geht es vor allem darum, das Bewegungsgefühl aufzubauen. Und dann gibt es speziellere Kurse, für die, die beispielsweise nur Akrobatik oder nur Luftakrobatik machen, also Trapez und Tuch. Außerdem gibt es viele Kooperationen mit Schulen, zum Teil wirklich auch Schulunterricht.
Im Schulunterricht hat man es mit einem Querschnitt verschiedener Kinder zu tun. Ist Zirkussport etwas für alle?
Das Schöne am Zirkus ist: Für eines der vielen Angebote hat man wahrscheinlich ein Talent. Vielleicht kann nicht jeder Partnerakrobatik, aber es gibt ja viele Bereiche. Jeder findet das, was ihm liegt.
Welche Bereiche gibt es?
Luftakrobatik wie Trapez oder Tuch. Partner- oder Gruppenakrobatik. Jonglage mit Bällen oder Keulen. Diabolo spielen. Wir haben auch einen Clownskurs.
Also ist das Angebot doch sehr klassisch.
Das stimmt, es ist aber nur ein Kurs. Ich habe einen Kurs mit Kindern ab zehn Jahren, die alles machen und sich ausprobieren. Und wenn die älter werden, können die sich für speziellere Kurse entscheiden oder zum freien Training kommen.
Das heißt, Sie beherrschen all diese Sportarten?
Es bleibt nicht aus, dass man alles ein wenig kann: Einrad fahren, über ein Seil laufen in der Luft, Trapez und Tuch. Mit dem Jonglieren habe ich mich am Anfang etwas schwer getan, aber mittlerweile geht es auch.
Ihre Spezialität ist die Akrobatik. Wie lange machen Sie das schon?
Seit der neunten Klasse, also seit zehn Jahren.
Wie oft müssen Sie trainieren, um das Level zu halten oder besser zu werden?
Zweimal pro Woche muss schon sein. Während Corona haben wir fast keine Partnerakrobatik gemacht, da habe ich nur allein Handstand geübt.
Bei einem Handstand denkt man sich: Das kann ich auch. Was unterscheidet Ihren Handstand von dem eines Laien?
Man kann zwar schnell einen Handstand, aber dann gibt es immer Dinge, die man verbessern kann. Mal hat man den Rücken nicht ganz gerade, dann sind die Schultern nicht ganz sauber gehalten, lauter Kleinigkeiten. Da kämpft man schon mal ein halbes Jahr, um den kleinen Knick, den man noch drin hatte, rauszubekommen. Und dann gibt es verschiedene Variationen: Handstand nur auf einer Hand, das klappt bei mir noch nicht ganz so gut, oder die Hände als eine Art Knoten übereinanderzustellen, das klappt langsam ganz gut. Eine gute Herausforderung für das Gleichgewicht ist, Handstand auf Gegenständen zu machen, die wackeln.
Das Gleichgewicht halten zu können: Ist das der schwierigste Part bei der Partnerakrobatik?
Es ist genau umgekehrt. Das ist oft das Problem: Ich habe mich beim Solo-Handstand so darauf konzentriert, selber zu balancieren, dass es in der Partnerakrobatik dann schwierig ist, weil eigentlich nur der untere Part balanciert. Oben ist man von der Idee her nur gerade und fest. Das klingt jetzt einfach, aber es ist unglaublich schwierig, die ganze Kontrolle abzugeben.
Also machen Sie einen Handstand in den Händen Ihres Partners, müssen aber alles ablegen, was Sie eigentlich kennen?
Genau. Beim normalen Handstand balanciert man sich über die Finger, das muss man bei der Partnerakrobatik komplett ausschalten.
Wie lange hat es gedauert, bis das geklappt hat?
Im Nachhinein würde ich sagen, das ging schnell. Aber das hat bestimmt ein Jahr gedauert.
Gibt es Veranstaltungen, bei denen Sie Ihr Talent zeigen?
Es gibt keine größeren Events, weil wir nicht viel auftreten. Der Fokus liegt ja auf der Pädagogik. Aber wir fahren zu Conventions. Da treffen sich Menschen der Sportart aus ganz Europa, es gibt Workshops und wir trainieren eine Woche zusammen. In Bremen organisieren wir jährlich auch eine Akrobatik-Convention, die ist jetzt leider zweimal ausgefallen. Da kommen immer 200 bis 300 Akrobaten aus ganz Deutschland für ein Wochenende hierher. In der Zirkusschule gibt es gar nicht mehr so viele Artisten, von denen man noch neue Sachen gezeigt bekommen kann. Deshalb ist der Austausch in so großen Gruppen echt schön.
Gibt es keine Turniere?
Nein. Im Zirkusbereich geht es vielmehr um das Miteinander, um das voneinander Lernen. Natürlich auch um die Artistik und Auftritte. Mit den Kindern geben wir einmal im Jahr Auftritte. Das ist für sie immer sehr aufregend.
Fehlt durch die fehlende Konkurrenz nicht auch der Ansporn?
Das würde ich nicht sagen. Es gibt ja immer die Challenge des nächsten Tricks. Wenn man einem Kind eine Abfalle am Tuch zeigt – also einen Trick, bei dem man das Tuch hoch klettert, sich einwickelt und dann wieder runterfallen kann –, dann ist die Motivation unglaublich groß, diesen Trick zu schaffen. Ich glaube, dieser Ansporn ersetzt ein wenig den Konkurrenzgedanken.
Warum ist diese Sportart gut für Kinder?
Sie lernen sehr viele Bewegungskompetenzen: Gleichgewicht, Hand-Augen-Koordination. Und vor allem das Miteinander. Das ist kein Konkurrenzsport, dadurch hilft man sich gegenseitig. Hier klappen Sachen nur zusammen. Und man muss lernen, anderen zu vertrauen. Bei der Akrobatik muss man auch Kontrolle abgeben.
Wie hat sich die Corona-Pandemie auf den Verein ausgewirkt?
Wir konnten die ganze Zeit über keine normalen Kurse machen. Wir hatten unglaubliches Glück, dass alle den Mitgliedsbeitrag weitergezahlt haben und die Schule so gut über die Zeit gekommen ist und Trainer weiterbezahlt werden konnten. Im ersten Lockdown haben wir Videos gemacht, wo wir Dinge vorgemacht haben, damit die Kinder das daheim nachmachen. Im zweiten Lockdown haben wir Zoomveranstaltungen gemacht. Aber gegen Ende war das auch nicht mehr motivierend, gerade für kleinere Kinder. Die hatten keine Lust mehr, nur vor dem Laptop zu sitzen mit ihren vier Jahren. Als es dann vor Kurzem wieder richtig los ging, hatte ich das Gefühl, die wollen ein ganzes Jahr in einer Stunde aufholen.
Wie lange sind Sie schon Trainerin?
Seit fast fünf Jahren. Seitdem ich studiere. Nach dem Abitur war ich ein Jahr im Ausland und habe bei einer Zirkusschule in Gent einen europäischen Freiwilligendienst gemacht. Dort konnte ich richtig viel dazulernen. Als ich wieder da war, habe ich hier angefangen.
Warum konnten Sie dort mehr lernen?
In Belgien gibt es diese Kinder- und Jugendzirkusse wie Fußballvereine. Die haben dort viel mehr Festangestellte und viele Kurse für Erwachsene, was echt cool ist. Hier bringen wir uns sehr viel selbst bei. Dort gab es mehr Input.
Gibt es in Bremen niemanden mehr, der Ihnen noch was beibringen kann?
Es gibt eine Bremer Akrobatikgruppe vom Hochschulsport, da gibt es noch alteingesessene Akrobaten, die schon was zu unseren Figuren sagen können. Aber den größten Input bekommt man bei den Conventions.
Akrobatik sieht unglaublich anspruchsvoll aus. Kann das jeder lernen?
Die Hebefiguren sind natürlich etwas schwerer. Man kann aber ja sehr niedrigschwellig anfangen. Das Schöne ist, dass es bei allem einen leichten Einstieg gibt. Ähnlich wie beim Handstand: Es klappt ganz schnell, aber dann kann man ewig daran arbeiten, dass es perfekt wird.
Und Sie führen die Figuren inzwischen mit Leichtigkeit aus ...
Das ist die Herausforderung. Am Anfang sieht‘s noch nicht so leicht, sondern eher abgebrochen aus. Das ist auch der entscheidende Unterschied von „es klappt irgendwie“ zu „es klappt richtig und es ist schön“. Diese Einsicht müssen die Kinder oft auch erst einmal lernen. Nur weil es irgendwie geht, ist man noch nicht fertig. Es gehört mehr dazu, wenn man das auf die Bühne bringen will.
Haben Sie und Ihr Partner ein nächstes Ziel oder einen Trick, den Sie lernen wollen?
Wir haben viele Ziele. Für mich zunächst den Handstand auf einer Hand, dann auch einen gehobenen auf einer Hand. Wenn es wieder richtig losgeht und mehr Menschen in die Halle dürfen, die einen auffangen können, wenn man fällt, dann können wir auch wieder richtig loslegen und üben.
Das Gespräch führte Frieda Ahrens.