Von seinem ersten selbst verdienten Geld hat sich Iwan Zurkin einen riesigen Fernseher gekauft. „Im Internet gucke ich gerne Filme auf Russisch“, erzählt der 25-jährige Kasache, der seit 2003 in Bremen lebt. Im März hat er seinen ersten Arbeitsvertrag unterschrieben. Ein Meilenstein im Leben des jungen Mannes, der mit einer Behinderung zur Welt gekommen ist. „Er ist jetzt unbefristet beschäftigt und arbeitet als Vollzeitkraft in unserem Getränkemarkt“, erzählt Claudia Schwinning, Inhaberin des Edeka-Marktes in Blumenthal.
Gemeinsam mit Iwan Zurkin und dessen Eltern hat die Unternehmerin vor wenigen Tagen im innerstädtischen Conrad-Naber-Haus an einer Preisverleihung der Stiftung Martinshof teilgenommen, bei der ihr Schützling einen mit 1500 Euro dotierten Preis erhalten hat. „Das war ein großer Festakt und die perfekte Auszeichnung für Iwan. Er war total aufgeregt und hat sich sehr gefreut“, sagt Schwinning.
In der Laudatio für zwei Preisträger sei Zurkins Engagement explizit gelobt worden, aber auch die Experimentierfreude der Arbeitgeber, dank derer dokumentiert wird, wie Inklusion funktionieren kann, erzählt Schwinning. „Alle haben Iwan gratuliert, auch Frank Imhoff, der Präsident der Bremischen Bürgerschaft."
Selbstvertrauen durch Anerkennung
Zur Vorgeschichte: Die Martinshof-Werkstatt Nord hat Claudia Schwinning vor rund zwei Jahren gefragt, ob sie einen Praktikanten mit einer Behinderung beschäftigen würde. Dazu war die Geschäftsfrau sofort bereit, zumal sie sowohl beruflich als auch privat mit beeinträchtigten Menschen zu tun hat. „Und schon beim Vorstellungsgespräch war mir klar, Iwan gehört in den Getränkemarkt, weil er groß und kräftig ist“, erzählt sie.
Tatsächlich habe der angehende Praktikant, der beim Martinshof die Grundlagen des Berufs Fachlagerist erlernt hat, gestrahlt, als er in den Getränkemarkt durfte, so Schwinning. Er habe anfangs aber so gut wie gar nicht gesprochen. Auch deshalb sei Mario Büsing, sein Betreuer, ihm zunächst nicht von der Seite gewichen, um ihn nicht zu überfordern.
„Man sieht Iwan die Behinderung nicht an. Deshalb stellen ihm die Kunden häufig Fragen. Heute kann er damit gut umgehen, und die Kunden kennen ihn. Sie wundern sich nicht mehr, wenn er auf eine Frage nicht antwortet und stattdessen wortlos weggeht, um sich zu kümmern.“
Für Wein, Sekt und Spirituosen gebe es noch eine Fachkraft, aber Iwan Zurkin nehme Waren an, fahre mit dem Hubwagen durch die Gegend und kümmere sich um die Leergut-Annahme sowie den Automaten. „Im Getränkemarkt macht es Spaß, die Ware zu verräumen“, betont Iwan Zurkin. „Ich habe mal im Lager eine Ausbildung gemacht und kann auch mit dem Hubwagen fahren.“
Der junge Mann spricht zwar etwas undeutlich, „aber er ist gut in der Lage, sich für die eigenen Interessen einzusetzen“, betont Claudia Schwinning. Er fragt auch nach freien Tagen oder Urlaub. Das hat er sich früher nicht getraut.“ Die Arbeit im Team und die Anerkennung durch die Kollegen habe sein Selbstvertrauen zusehends gestärkt. Im Getränkemarkt habe Iwan fünf Kollegen, im gesamten Supermarkt seien es mehr als 100. „Und er freut sich schon heute auf unsere Weihnachtsfeier.“
Inzwischen hat Zurkin auch eine eigene Wohnung in Schönebeck. In der Nähe seiner Geschwister und Eltern. „Zum Essen geht er ganz gern zu seiner Mama, aber ansonsten lebt er autark“, sagt Claudia Schwinning. „Die Werkstatt hat mir bei der Wohnungssuche geholfen. Die Möbel habe ich mit den Eltern gekauft.“ Mit dem Preisgeld möchte Iwan Zurkin eine Reise nach Kasachstan finanzieren, um seine dort lebende Schwester Oxana zu besuchen. „Ich habe Heimweh nach Kasachstan“, sagt er.
Seine Heimatregion Kokshetau (Kökschetau) ist 400 Quadratkilometer groß und hat 150 000 Einwohner. Das googelt der 25-Jährige auf Anfrage im Internet. 6000 Kilometer sind es bis dort. “Wir fliegen oft hin. Die Hauptstadt ist riesengroß und jetzt sehr schön geworden“, sagt er. Und dort kann er auch seiner Leidenschaft frönen: dem Schlittschuhschlaufen. In Bremen gehe das ja nur selten unter freiem Himmel. Deshalb fährt Iwan Zurkin manchmal ins Eisstadion.
Claudia Schwinning freut sich über die Fortschritte, die ihr Mitarbeiter macht. „Grundsätzlich würde ich auch noch jemanden mit einer Beeinträchtigung beschäftigen, der zum Team passt.“ Gescheitert sei aber das Praktikum eines jungen Mädchens mit Downsyndrom. „Sie konnte sich nicht lang genug konzentrieren, das ging leider nicht. Man muss jeweils individuell entscheiden, was leistbar ist und Sinn macht.“ Bei Iwan Zurkin hat es jedenfalls gut geklappt.