Monatelang haben Gutachter die Situation der Frühchenversorgung in Bremen analysiert, um auszuloten, ob die Abteilung im Norden der Stadt verkleinert werden sollte oder nicht. Jetzt liegt das Resultat ihrer wissenschaftlichen Bewertung vor. Und das lautet: sie sollte. Ob es tatsächlich auch so kommt, ist allerdings noch offen. Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) hat angekündigt, die Entscheidung nicht sofort zu treffen, sondern frühestens in einem Jahr. Sie will abwarten, wie sich das neue Eltern-Kind-Zentrum am Klinikum Mitte entwickelt, wo sich die Frühchenversorgung konzentrieren soll.
Dass es eine wissenschaftliche Untersuchung gibt, steht seit vergangenem Jahr fest – ihr Ergebnis seit dieser Woche. Boris Augurzky und sein Team haben es im Regionalausschuss vorgestellt, in dem alle Nordbremer Beiräte vertreten sind. Der Gutachter hat einen Professoren- und einen Doktortitel, ist aber kein Mediziner, sondern Volkswirt, Mathematiker und Chef der Essener Health Care Business GmbH. Seit Jahren untersucht sie Abläufe im Gesundheitssektor und bewertet sie. Augurzky nennt die Bewertung in der Regel eine Empfehlung. Auch im Fall der Bremer Frühchenversorgung macht er das.
Er und sein Team haben vieles miteinander verglichen, hochgerechnet und gegenübergestellt: eine Frühchenversorgung ausschließlich am Eltern-Kind-Zentrum und eine Frühchenversorgung an zwei Standorten. Die Betriebskosten in Nord und die in Mitte. Die Erreichbarkeit, die Qualität der medizinischen Leistungen und die Zahl der Frühgeborenen. Für das Nordbremer Klinikum kommt Augurzky auf rund 140 Risikoschwangere im Jahr und auf zuletzt 86 Frühgeborene. Davon wogen sieben bei der Geburt weniger als 1250 Gramm, 16 über 1250 bis 1499 Gramm und 63 mehr als 1499 Gramm.
Der Geschäftsführer der GmbH spricht von Level-I-, Level-II-, Level-III-Kindern. Von unterschiedlichen medizinischen Anforderungen für ihre Behandlung. Und davon, dass das Klinikum Nord für die Level-I-Versorgung streng genommen gar nicht ausgestattet ist und die Level-III-Versorgung bleiben soll – sodass mit der Level-II-Versorgung nur ein kleiner Teil abgezogen werden würde. Er und seine Mitarbeiter befürworten das nach Abwägung des Für und Widers. Und für zwei Krankenhäuser mit Level-II-Versorgung spricht ihnen zufolge nicht so viel wie für ein Krankenhaus, an dem alles gebündelt wird.
Augurzky argumentiert mit weniger Geburten, die in Nord zu erwarten sind. Mit höheren Kosten für kleinere Abteilungen. Mit einer besseren Qualität der medizinischen Leistungen, wenn an einem Standort die Zahl der Fälle konzentriert wird, weil damit auch die Routine des Personals zunimmt. Und damit, dass sich ihm zufolge die Erreichbarkeit von Kliniken, die Frühchen versorgen können, bei einem Abzug der Level-II-Versorgung aus Nord nicht wesentlich verschlechtert. Nach seiner Rechnung ist die Fahrzeit dann immer noch geringer als in vielen anderen Regionen. Er kommt auf weniger als 45 Minuten.
Politiker und Mediziner, der Onlinesitzung des Regionalausschusses sind zwischenzeitlich fast 70 Teilnehmer zugeschaltet, argumentieren anders. Statt mit weniger Geburten rechnen sie mit mehr, weil die Zahl der Baugebiete steigt. Sie verweisen auf Studien, die belegen, dass weniger Fälle und Routine keine Leistungsabstriche bedeuten. Und sie fragen sich, wie die Gutachter darauf kommen, dass Risikoschwangere jederzeit in weniger als einer Dreiviertelstunde von Nord ins Klinikum Mitte kommen – und warum sie nicht berücksichtigt haben, wie wichtig es ist, ein Back-up zu haben, falls eine Abteilung ausfällt. Wie so oft in der Pandemie.
Auf die wissenschaftliche Bewertung wollen die Nordbremer Beiräte mit einem gemeinsamen Beschluss reagieren, der das Gegenteil empfiehlt, was die Gutachter empfohlen haben. Momentan ist er noch in der Abstimmung.