Borgfeld. Soviel steht für den neuen Vorstand Jörg Angerstein schon mal fest: Die Hans-Wendt-Stiftung will sich neu ausrichten, sonst hätte man ihn nicht berufen. In den Stiftungsbüros am Lehester Deich und in 37 Bremer Sozial-Einrichtungen, die der 55-Jährige seit Oktober führt, weht ein frischer Wind. Angerstein will etwas verändern und denkt dabei in großen Schritten, in Zielvereinbarungen und in Zahlen. Die Hans-Wendt-Stiftung organisiert seit über 100 Jahren Projekte für Kinder und Jugendliche in Bremen. Zurzeit arbeiten dort über 370 Beschäftigte, die inklusiv arbeiten – unter anderem mit Menschen, die von Behinderung oder Verhaltensauffälligkeit bedroht sind. Angerstein will diese soziale Arbeit auf sichere finanzielle Füße stellen. Dazu habe der Stiftungsrat ihn berufen, sagt Angerstein. Und: „Es gibt wirklich viel zu tun. Ich gehöre zu der Generation, die fragt, wo ist das Klavier - und nicht, wo ist der Kran?“
Der 54-jährige Betriebswirt und Diplom-Sozialpädagoge Jörg Angerstein kommt ursprünglich aus Braunschweig. Er war Bundesgeschäftsführer beim Deutschen Kinderschutzbund, Kommunikationschef beim Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes und Sprecher des Vorstandes des Kinderhilfswerks Terre des Hommes. Zuletzt führte er den Regionalvorstand der Johanniter-Unfall-Hilfe. Jetzt will er die Hans-Wendt-Stiftung „weiterentwickeln“ und „für das Jahr 2030 fit machen.“
Inzwischen ist Angerstein seit 100 Tagen im Amt. Zeit für eine Zwischenbilanz. „Die ersten 100 Tage sind ja immer damit verbunden, die Organisation kennenzulernen und als Nicht-Bremer müssen Sie Bremen verstehen“, berichtet der Familienvater. „Ich habe festgestellt, da brauche ich mehr als 100 Tage!“, gesteht der Berlin-Pendler unverblümt und lacht.
Angerstein will eine Strategie für die nächsten zehn Jahre. „Die liegt hier nicht in irgendeiner Schublade, die müssen wir zusammen entwickeln“, unterstreicht der Betriebswirt und Sozialpädagoge. Die Stiftung beschäftigt momentan 370 Mitarbeiter in 37 Einrichtungen – jede und jeder solle zur Neuausrichtung etwas beitragen. „Ich weiß, vielen macht das Angst.“ Aber es müsse zukünftig eine wirtschaftliche Stabilität geben. Ein Stiftungsvermögen von zehn Millionen Euro, wie es die Organisation heute ausweisen könne, reiche in der heutigen Zeit nicht aus. Er könne sich vorstellen, dass die Hans-Wendt-Stiftung zukünftig „ein Dach auch für kleinere Stiftungen bieten“ könne.
„Bei Stiftungen geht es heute nicht mehr um Mildtätigkeit“, erklärt Angerstein. „Sondern es geht um Social Impact, also um soziale Investitionen.“ Stiftungen müssten sich auf den Weg machen, um zu schauen, wie man Kooperationspartner finden könne, die sich für soziale Ideen begeistern ließen. „Sozialarbeit als Investitionsleistung“ – ein Projekt, für das Angerstein brennt.
Gesellschafts-, Jugend- und Familienstrukturen würden sich zurzeit verändern – „was bedeutet das für ein Unternehmen, dass es sich auf die Fahnen geschrieben hat, Kinder, Jugendliche, jungen Erwachsenen und deren Familien, die sozial benachteiligt – oder aus psychischen oder körperlichen Gründen eingeschränkt sind, in Zukunft zu fördern?“, will der Sozialpädagoge wissen. Was bedeutet Globalisierung dabei? Was bedeutet Kindheit in Zeiten der Digitalisierung? Auf all diese Fragen müsse die Hans-Wendt-Stiftung ganz eigene Antworten finden.
Abschied vom Wunschdenken
Mit dem Stiftungsrat hat Angerstein vereinbart, dass es für 2030 fünf Ziele geben solle, die bis dahin umgesetzt werden müssen. „Ein Wunschdenken wird es nicht geben, alles muss auf der wirtschaftlichen Realität fußen“, verlangt der neue Chef. Es ginge nicht nur darum, was sich Pädagoginnen und Pädagogen wünschen. „Ich liebe es, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für ihre Klienten einsetzen – das ist wunderbar.“ Aber das alles müsse auch bezahlbar bleiben.
„Wir versuchen mal, so ein bisschen, den Staub runter zu pusten“, sagt Angerstein. Er wolle die Organisation, die ursprünglich vor 100 Jahren von einem Bremer Zigarrenfabrikanten gegründet wurde, über die Landesgrenzen hinweg bekannt machen. „Ich will kleine Grenzen verwischen.“ Er sei überzeugt von der Leistung der Hans-Wendt-Stiftung und wolle ihre Ideen auch über Bremen hinaustragen. „Wenn wir von unserer Leistung überzeugt sind, und sagen, wir sind exzellent, warum sollen dann nicht auch andere daran partizipieren?“ Die Hans-Wendt-Stiftung müsse in ganz Deutschland bekannt werden, auch aufgrund der Tatsache, dass es zunehmend schwieriger sei Fachkräfte zu finden.
Angerstein sieht sich als ein Mensch, der „viel mit dem Humor regelt“. „Er sei nicht“, und darauf legt er großen Wert, „der reine Sanierer“. „Ich bin auch Ermöglicher und Gestalter“, sagt der Seelsorger. Der Stiftungsrat unter dem langjährigen Vorsitz von André Vater unterstütze ihn bei seinen Plänen. „Jetzt kommt es darauf an, dass wir alle zusammen neue Wege gehen wollen.“ Angerstein blicke dabei zuversichtlich in die Zukunft, sagt er.