Herr Heikens, Sie führen eine ungewöhnliche Freundschaft mit einem Mann, der seit Jahrzehnten in einem US-amerikanischen Todestrakt sitzt. Wie kam es dazu?
Stefan Heikens: Ich war 2018 mit einer Frau liiert, deren Verwandtschaft in Texas lebt. Da ich mich immer sehr mit den Gegebenheiten, in denen ich lebe, auseinandersetze, habe ich mich intensiv mit dem US-Bundesstaat Texas und hier auch mit der Todesstrafe auseinandergesetzt. Ich wollte mehr darüber erfahren und dachte mir, dass ich am besten einen Insassen aus dem Todestrakt frage. Denn die wissen ja am besten Bescheid. Und so lernte ich Tony Egbuna Ford kennen. Er war zu diesem Zeitpunkt 43 und ich 38 Jahre alt.
Ist es in den USA so einfach, Kontakt mit einem Todeskandidaten zu knüpfen?
Ja, in den USA ist das ganz normal. Es gibt Internetseiten, auf denen man Hunderte von Kurzvorstellungen von Verurteilten findet. Eine Art Profil, das von den Insassen selbst geschrieben wird, um Freundschaften nach draußen zu knüpfen. Tony fand ich über die Webseite der "Initiative gegen die Todesstrafe". Ich las in Tonys Profil, dass er – genau wie ich – auf Heavy Metal steht und dass er mal einige Zeit in Deutschland gelebt hatte, weil seine Mutter hier half, einen Burger King zu eröffnen. Da habe ich ihn angeschrieben.
Wie war die erste Kontaktaufnahme?
Ich schrieb einen sehr förmlichen Brief. "Sehr geehrter Herr Ford... usw." Ich erklärte, dass ich mich nicht auskennen würde, was ich ihm überhaupt in den Todestrakt schreiben dürfe und schrieb zusätzlich ein bisschen was über meine Person. Nach vier Wochen erhielt ich seine Antwort, die mich laut lachen ließ: Er schrieb: "Stefan, pass mal auf – " und dann folgten die schlimmsten Schimpfwörter. So brachte Tony mir bei, dass ich schreiben konnte, wonach mir der Sinn stand.
Warum wurde Tony zu einer Todesstrafe verurteilt?
Er war 19 Jahre alt, als er gebeten wurde, zwei Brüder aus einer Gang zu einem Haus zu fahren, in dem ein Drogendealer leben würde, den sie verjagen wollten. Tony stimmte zu. Am Haus angekommen, wartete er vor dem Haus. Die beiden Brüder gingen hinein und kamen kurze Zeit später wieder hinaus. Einer nahm sich den Wagen von dem vermeintlichen Drogendealer und einer wurde von Tony zu sich nach Hause gefahren. Am nächsten Tag wurde Tony verhaftet. Im Gefängnis erfuhr er, dass er wegen Mordes angeklagt sei. Die beiden Brüder hätten einen Jungen erschossen und die Mutter und seine Schwester angeschossen. Einer der Brüder wurde gefasst. Um seinen Bruder nicht zu verraten, nannte er Tonys Namen als zweiten Täter. So hat Tony es mir erzählt.
Wie entwickelte sich aus der Brieffreundschaft eine tiefe Freundschaft?
Ich erfuhr durch die Briefe sehr viel von Tonys Lebensumständen. Er schrieb mir von seinen Ängsten und Sehnsüchten, von seinen Plänen und er war auch sehr interessiert an mir und an meinem Leben. Für Insassen im Todestrakt gibt es nicht viel, womit sie sich die Zeit vertreiben können. Deswegen saugen sie alles in sich auf, was von draußen kommt. Sie haben eine Zehn-Quadratmeter-Zelle mit Klo und Waschbecken, Wandtisch und eine Pritsche mit Matratze. Wenn sie Glück haben, hat ihre Zelle ein Fenster in Deckenhöhe, das circa zehn Zentimeter hoch ist. Sie dürfen malen oder schreiben. Sonst bleiben Sport oder sich Gedanken machen. 23 von 24 Stunden sind sie eingeschlossen. Eine Stunde Freigang. Alleine. Daher kommt es, glaube ich, dass die meisten Insassen eine sehr ausgefeilte und talentierte Denk- und Schreibweise haben, die einem sehr zu Herzen geht. So war es auch mit Tonys Briefen. Sie landeten geradewegs in meinem Herzen.
Sie haben Tony mehrfach besucht. Wie muss man sich das vorstellen?
Mir war schnell klar, dass ich ihn treffen möchte. Also buchte ich eine Reise nach Texas und teilte Tony mit, dass ich ein "Special Visit" beantragen würde. Das bedeutet, dass man als Besucher von weit her die Möglichkeit bekommt, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen für jeweils vier Stunden den Häftling zu besuchen. Den Besuch werde ich nie vergessen. Ich musste durch mehrere Sicherheitsschleusen und durch ein Tor, auf dem stand: "Wenn Sie durch dieses Tor gehen, sind Sie Staatseigentum. Im Falle einer Geiselnahme wird keine Rücksicht auf Sie genommen." Da war mir schon sehr mulmig. Im Todestrakt weiß man nie, ob der Termin wirklich eingehalten wird. Es kommt auch immer auf die Laune der Wächter an. Ich musste 20 Minuten warten. Dann wurde Tony in einen der Käfige geführt, die auf der Insassenseite liegen. Der Häftling geht also in den Käfig, der sofort abgeschlossen wird. Seine Hände auf dem Rücken in Handschellen. Er streckt seine Hände durch ein Loch im Käfig nach hinten, damit die Handschellen aufgeschlossen werden. Dabei muss er sich nach vorne beugen. Und Tony grinste mich einfach nur glücklich durch die Panzerglasscheibe an. Das war so ein toller Moment.
Was gibt Ihnen diese Freundschaft?
Es ist mittlerweile viel mehr als eine Freundschaft. Wir sind Brüder geworden. Tony meinte mal, nachdem er von meiner sehr schwierigen Kindheit erfuhr, dass seine Mutter mich sicher sofort adoptiert hätte. Und ich meine das auch so: Tony ist mein Bruder. Wir wissen sehr viel voneinander, gehen so offen und ehrlich miteinander um, lachen viel und teilen unser Leben miteinander. Er ist Teil meines Lebens und ganz tief in meinem Herzen. Wenn er Geburtstag hat, feiere ich für ihn mit meinen Freunden. Das mag sich komisch anhören, aber Tony freut sich sehr, wenn er die Fotos sieht. Für Insassen ist es sehr wichtig, zu wissen, dass draußen an sie gedacht wird. Dass sie Teil des Lebens sind. Alle in meinem Umfeld wissen von Tony. Dass ich ihn kennenlernen durfte, ist eines der schönsten Geschenke in meinem Leben.
Inwieweit belastet Sie die Situation?
Ich fühle mich oft sehr hilflos und ohnmächtig, weil ich Tony nicht besonders helfen kann, außer, Kontakt zu ihm zu halten und ihm nach meinen Möglichkeiten mit Essen und Trinken aus dem Gefängniskiosk zu versorgen. Das ist eine enorme Ohnmacht. Ich werde meinen Bruder, meinen besten Freund, wenn er nicht begnadigt wird, wahrscheinlich nicht ein Mal lebend in den Arm nehmen können. Ich werde nie mit ihm ein Bier trinken oder ihn überhaupt in Freiheit erleben können. Das hat mir schon viele schlaflose Nächte bereitet. Natürlich habe ich immer noch Hoffnung, dass er doch noch freigelassen wird. Wenn ich dann aber mitbekomme, dass wieder ein Todeskandidat hingerichtet wird, wird mir ganz anders.
Was wissen Sie von Tony – wie geht er mit der Situation um?
Tony ist einfach ein sturer Hund, der gibt niemals auf und lässt sich nicht unterkriegen. Die Verurteilten haben meist, wenn sie nicht schon durch die strengen Haftbedingungen wahnsinnig geworden sind, Zukunftspläne. Tony möchte zum Beispiel eine Film-Firma gründen, wenn er rauskommt. Ein großer Wunsch von uns beiden ist, einmal zusammen in ein Steakhaus zu gehen und dazu ein kaltes Bier zu trinken. Aber voraussichtlich wird das nie stattfinden.
Sie engagieren sich seit Jahren für mehrere Todeskandidaten. Wie genau?
Ich veröffentliche Bücher. Alles fing damit an, dass mich die Tante eines Hingerichteten ansprach, ob ich das Buch ihres Neffen veröffentlichen könne. Der Kontakt kam über Tony. Das Buch ist dieses Jahr erschienen und heißt "Wie mir die Todesstrafe das Leben rettete" von Chris A. Young. Er schrieb es im Todestrakt und es war sein letzter Wunsch, dass es veröffentlicht wird.

Stefan Heikens vor dem Inhaftierungsfoto der Polizei von seinem besten Freund Tony Egbuna Ford.
Wie ist die derzeitige Situation für Tony und für Sie?
Tony hat vor Kurzem seinen Hinrichtungstermin bekommen. Am 24. November 2024 soll er die Giftspritze erhalten. Ich hoffe natürlich, dass es nicht stattfinden wird. Falls doch, wünsche ich mir, dass ich vor Ort dabei sein kann. Es klingt makaber, aber es ist alles, was ich für Tony tun kann. Tatsächlich sitzt man dann vor einem Fenster und sieht, wie ihm die Todesspritze gesetzt wird, nachdem er seine letzten Worte gesprochen hat. Danach wird er in einer Gefängniskapelle aufgebahrt. Dort hat man 15 Minuten Zeit mit ihm. Das wird der Zeitpunkt sein, wo ich ihn zum ersten Mal berühren darf.