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100 Jahre Werkstatt Bremen So entsteht die Jahrhundertpraline

Wie Teilhabe am Arbeitsleben funktioniert, zeigt die Kooperation von Werkstatt Bremen und Konditormeister Nick van Heyningen. Zum 100. Geburtstag des Unternehmens haben sich beide etwas Besonderes ausgedacht.
20.05.2023, 05:00 Uhr
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So entsteht die Jahrhundertpraline
Von Ulrike Troue

In weißen Kitteln, mit Haarnetz und Handschuhen gehts in der Gröpelinger Werkstatt-Küche frisch ans Werk: Zaghaft übt Lilia mit ruhiger Hand Druck auf die Spritztüte aus. Bei der Fruchtfüllung sind Augenmaß und Fingerspitzengefühl gefragt. Ein kleiner Klecks der dunkelroten Masse ist versehentlich auf den Rand eines Mini-Schokobechers gelandet. Konditormeister Nick van Heyningen lobt die hoch konzentrierte Martinshof-Mitarbeiterin: „Gut gemacht!“

Lilia zeigt handwerkliches Geschick. In der Regel bereitet die 41-Jährige die Früchte für Konfitüre vor oder füllt den süßen Brotaufstrich in Gläser. Das schult die Fingerfertigkeit. An diesem Vormittag darf sie mit weiteren Beschäftigten aus der Werkstatt Bremen oder dem Berufsbildungsbereich an der jüngsten Kreation aus der Martinshof-Manufaktur mitarbeiten: der Jahrhundertpraline – eine Kreation aus fein passierter Kirsch-Espresso-Konfitüre in Verbindung mit einer hauptsächlich aus Sahne und Schokolade bestehenden Creme (Ganache) und zart schmelzender Kuvertüre.

„Richtig lecker, schmeckt schön fruchtig“, beschreibt Lilia den Geschmack in Erinnerung an ihre erste Kostprobe der Süßigkeit, die van Heyningen entwickelt hat. Verführerisches Schokoaroma wabert durch die Küche, doch bei der Produktion ist Naschen natürlich verboten und es gelten strenge Hygienevorschriften.

Die „süße kleine Überraschung“ sei beim Senatsempfang zum Jubiläum zum ersten Mal angeboten worden, sagt Produktionsleiter Bernd Zerhusen. Zur erfolgreichen Entwicklung der Werkstatt Bremen haben auch die selbst produzierten Lebensmittel  beigetragen. Das sollte sichtbar werden. Außerdem hätten Pralinen den Vorteil, dass sie anlassbezogen frisch produziert und passend verziert werden könnten. Wobei die finale Dekoration und der glänzende Schokoüberzug äußerst anspruchsvoll seien, sodass dies in van Heyningens Pralinenmanufaktur geschehe.

In den regulären Verkauf könnte die Jahrhundertpraline nach Zerhusens Plan zum Wintermarkt kommen. In exklusiver Verpackung, die ist gesetzt. „Der Anspruch unserer Manufaktur ist höchste Qualität“, sagt er, „deshalb sollen unsere Produkte gekauft werden.“ Nicht aus sozialen Motiven.

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Weil die Kirsch-Espresso-Konfitüre, in der frische Früchte, fair gehandelter Bio-Kaffee und auch etwas Schokolade enthalten sind, schon zum Sortiment gehört, lag für den Produktionsleiter der Einstieg in die Pralinenherstellung zur Vergrößerung der Angebotspalette praktisch auf der Hand. Darüber hinaus hatte er mit van Heyningen einen langjährigen Bremer Partner aus der Wirtschaft an seiner Seite. „Das läuft völlig unkompliziert“, sagt Zerhusen.

Ihre Zusammenarbeit ist nur ein Beispiel für die Kooperation des Martinshofs mit Unternehmen unter dem Motto „Werkstatt trifft Wirtschaft“. Diese begann 2016 mit Bio-Trinkschokolade am Stiel, wurde über die Grünkohlpraline und den Bremer Senats­taler ausgebaut. „Wir wollten immer schon Schokolade machen“, sagt Zerhusen. Außerdem fände er Kooperationen mit Start-ups immer spannend, da könne man miteinander wachsen und profitieren. „Der Martinshof produziert inzwischen unsere Tüten“, sagt van Heyningen. „Es ist schön, etwas zurückzugeben.“

Innerhalb von 14 Tagen hatte der junge Konditorenmeister die Rezeptur für die Jahrhundertpraline ausgetüftelt. „Nur Frucht wäre zu intensiv, sie könnte auch austreten und das wäre auch von der Verarbeitung sehr schwierig“, erinnert Nick van Heyningen an erste Überlegungen. Der 36-Jährige musste auch die Fähigkeiten der Werkstattbeschäftigten bedenken und besann sich auf bisherige Erfahrungen: zum einen persönliche mit seiner lern- und sprachbehinderten Schwester, zum anderen die mit dem Martinshof.

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Im Gegensatz zu seinem Alltag im Handwerk unter Zeit- und Kostendruck „steht hier der Mensch im Vordergrund“, sagt van Heyningen. „Und ich finde es überraschend, welche Handarbeiten diese Beschäftigten mit Freude bewältigen.“ Er hat allerdings auch festgestellt: „Ich muss mich mehr zurücknehmen, auf jeden individuell einstellen.“

Mit ruhiger Stimme erklärt der Konditorenmeister, der „nie Berührungsängste hatte“, dem 23-jährigen Waldemar den Trichtermechanismus für die Ganache-Füllung. Dann bittet er nach dem Einfüllen der auf 45 Grad erwärmten Schokolade in die Senatstaler-Form Selina, vorsichtig die Luftblasen herauszuschlagen. Matthias hat er für das vorgeschriebene Gewichtsprotokoll eingespannt.

Wenn drei Tage jeweils acht Stunden lang in Handarbeit Senatstaler hergestellt werden – pro Tag 700 bis 800 Stück –  „sind alle k. o. und merken durchaus, wie anstrengend das ist,“ sagt Marion Untied, Leiterin des Berufsbildungsbereichs. „Es kommt auf jedes Detail an, und man muss Geduld mitbringen.“ Damit jeder – auch stark beeinträchtige Beschäftigte – die Möglichkeit bekommt, an so einer besonderen Aktion teilzunehmen, rotieren die Helfenden. „Wir wollen sie schon fordern, aber nicht überfordern“, sagt Zerhusen. „Und wir wollen auch Spaß vermitteln.“

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