„Ich habe eine ganz blöde Vergangenheit“, sagt Sarah Zachow. Nachdem die Lesumerin 2013 ihre Ausbildung zur Bürokauffrau beendet hatte, suchte sie jahrelang vergeblich einen Job. „Ich habe mehr als 400 Absagen bekommen.“ Heute arbeitet die 33-Jährige wegen ihrer Beeinträchtigung im Martinshof, einer Werkstatt für behinderte Menschen in Vegesack. Wie schwierig es heute für Frauen und Männer mit Handicap ist, einen Job zu finden.
Seit zweieinhalb Jahren kümmert sich Sarah Zachow im Verwaltungsgebäude des Martinshofs um E-Mails, nimmt Anrufe entgegen und bestellt im Bedarfsfall Arbeitskleidung für Mitarbeiter. Zu Beginn ihres Berufslebens arbeitete sie einmal kurz für eine Firma auf dem ersten Arbeitsmarkt: „Für vier Monate“, wie sie sagt. Doch sie habe nicht durchgehalten: „Ich kam gerade erst aus der Ausbildung, mir fehlte praktische Erfahrung, mein Chef war ein Choleriker, das war zu viel.“ Nach der Kündigung folgte Absage um Absage – „und ich wurde in die erste Maßnahme gesteckt“.
Aus einer Maßnahme wurden schließlich acht. „Ich habe acht Jahre lang Mandalas ausgemalt, Sodoku gelöst und getanzt.“ Als Büroangestellte habe sie das nicht weitergebracht. „Es standen zwar auch EDV-Kurse auf dem Programm, aber da haben wir gelernt, wie man den Computer einschaltet.“ Sie habe viele unbezahlte Praktika absolviert – alle vergeblich. Ihr Selbstwertgefühl habe in der Zeit gelitten. „Ich war ganz weit unten. Ich habe vergessen, was ich selber kann.“
Wenig Chancen auf Arbeitsmarkt
Wer nicht anders vermittelbar ist, den führe der Weg klassischerweise in eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Das sagt der Geschäftsführer der Werkstatt Bremen, Philipp Hirth. “Irgendwann kommt vom Jobcenter die Empfehlung, es in einer Werkstatt zu versuchen.“
Kaum jemand, der an der Martinsheide 8 in der Küche, der Holz- oder Metallwerkstatt arbeitet, wird jemals einen Platz in der freien Wirtschaft bekommen. Das ist die Realität, mit der Kristin Buß, Regionalcenterleiterin der Werkstatt Bremen in Vegesack, derzeit umgeht: „Es gibt dazu eine Zahl: Ein Prozent der Beschäftigten schafft es pro Jahr zu wechseln.“ Und dass obwohl die Werkstatt Bremen mit „Kwerwege“ mittlerweile eine eigene Abteilung hat, die Menschen mit Handicap ins Berufsleben begleitet. Die Vorbehalte auf Arbeitgeberseite seien groß, berichtet Kristin Buß. "Sie fragen sich, auf was sie sich einlassen, wenn sie Menschen mit Behinderung einstellen.“
Eine Abgeordnete, die sich seit Jahren mit dem Thema befasst, ist Sigrid Grönert, sozialpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion. „Ich bin seit zwölf Jahren Abgeordnete und stelle fest, dass sich trotz aller Bemühungen nichts geändert hat. Irgendwie funktioniert es nicht.“ Selbst die 2019 im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linken zugesagten 30 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen im Bremischen öffentlichen Dienst konnten bis 2022 nicht umgesetzt werden, geht aus einer Senatsantwort auf eine Kleine Anfrage der CDU-Fraktion hervor.
Stundenlohn beträgt zwei Euro
Die Integrationsprobleme bestehen nicht nur in Bremen. Der Sozialverband Deutschland, kurz SoVD, in Berlin fordert deshalb grundsätzlich eine deutliche Verbesserung bei den Übergängen in den ersten Arbeitsmarkt. "Gleichzeitig wissen wir, dass WfbMs leider für viele Menschen mit Behinderungen ein wichtiger 'Anker' sind, um Teilhabe am Arbeitsleben zu gewährleisten", so SoVD-Sprecher Constantin Schwarzer. Aus dem Grund fordere der SoVD auch eine deutlich bessere Bezahlung in WfbMs. Bereits 2022 hatte der SoVD in Niedersachsen beklagt, dass es für Werkstatt-Beschäftigte keinen Mindestlohn gibt: „Obwohl ihr Arbeitspensum durchschnittlich 6,5 Stunden am Tag beträgt, verdienen sie lediglich zwischen 1,35 und 2 Euro in der Stunde.“
Werkstattarbeit sei keine Erwerbsarbeit, sondern eine Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben im Rahmen der Eingliederungshilfe, reagiert Werkstatt-Geschäftsführer Philipp Hirth. „Das heißt, es gibt keinen (Mindest-)Lohn, sondern die Beschäftigten erhalten ein Entgelt, das aus dem Ergebnis gezahlt wird, das durch die Arbeit der Beschäftigten erwirtschaftet wird. Das ist gesetzlich klar geregelt. Wie hoch es ist, ist dann von Werkstatt zu Werkstatt unterschiedlich. Im Bundesdurchschnitt liegt es bei circa 212 Euro pro Monat. Bei Werkstatt Bremen bekommen die Beschäftigten im Schnitt sogar etwas mehr, circa 270 Euro.“ Zusätzlich gebe es von der öffentlichen Hand Leistungen zum Lebensunterhalt oder je nach Fall auch eine Erwerbsminderungsrente.
Förderprogramm gestartet
Sarah Zachow will vorerst keinen Versuch mehr unternehmen, eine Stelle außerhalb der Werkstatt zu bekommen. „Ich bin hier angekommen. Hier ist mein Arbeitsplatz. Hier fühle ich mich gesehen. Hier habe ich die Sicherheit. Wenn ich einen Fehler mache, ist das blöd, aber kein Weltuntergang.“
Die Vegesacker Regionalcenterleiterin Kristin Buß hofft, dass sich die 33-Jährige doch noch umorientiert. „Wir versuchen, Menschen in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Wir kümmern uns darum, sie zu vermitteln, das gehört laut Bundesteilhabegesetz zu unseren wichtigsten Aufgaben.“ Das sieht auch das Bremer Sozialressort so. Der Ausbau von Beschäftigungsmöglichkeiten für schwerbehinderte Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei weiterhin wünschenswert, so Sprecher Bernd Schneider. Um das zu fördern, sei 2022 ein Aktionsprogramm „Inklusion im Betrieb“ gestartet. Es stelle zwei Millionen Euro für Gründung und Ausbau von Inklusionsbetrieben zur Verfügung.