Es war ein bitterkalter Buß- und Bettag im Jahr 1919. Rund eine Stunde hatte die Brema, die große Glocke im Bremer Dom, geschlagen und ihren vollen Klang über die Innenstadt getragen. Eine Stunde, um den Feiertag einzuläuten. Zum letzten Mal. Doch das ahnte noch niemand zu diesem Zeitpunkt.
Durch das lange Läuten hatte sich die Bronzeglocke erwärmt, während um sie herum die kalte Herbstluft lag. Eine fatale Kombination, wie sich später zeigte: Ein 40 Zentimeter langer Riss im Mantel hat die Glocke beschädigt und unbrauchbar gemacht. Die Brema war, ein Vierteljahrhundert nachdem sie gegossen wurde, Geschichte.
Für die Firma Otto war das nur ein kleiner Rückschlag. Sie hatte die Glocke 1894 gefertigt. 50 Jahre nach Gründung von Otto-Glocken in Hemelingen hatte sich der Betrieb einen guten Ruf als Glockengießer erarbeitet. Auch in den folgenden Jahren sollte es dabei bleiben. Die Firma Otto wurden zum zweitgrößten Glockengießbetrieb in Deutschland.
Wie die Firma Otto zu ihrer Größe und ihrem Renommee kam, wo überall die Glocken aus Bremen hängen und was sie so besonders macht, das hat Gerhard Reinhold in acht Jahren Recherchearbeit für seine Dissertation untersucht. Seine Ergebnisse hat er nun in dem Buch „Otto-Glocken. Die Familien- und Firmengeschichte der Glockengießerdynastie Otto“ veröffentlicht.
Diese Familien- und Firmengeschichte ist eng mit Bremen verwoben. 1874 gründete Franz Otto die Gießerei in Hemelingen. Der eigentliche Glockenexperte war jedoch sein Bruder Carl, der den Glockenguss in Hildesheim gelernt hatte, sich als Priester aber nicht selbstständig machen durfte. Später teilten sich die Brüder die Arbeit auf. „Carl wandte sich den Glocken auf wissenschaftlich-theoretische Weise zu, Franz auf die technisch-praktische Art“, schreibt Reinhold in seinem Buch.
„Carl hatte ein ausgezeichnetes Gehör“, sagt der 67-Jährige im Gespräch mit dem WESER-KURIER. Er sei in der Lage gewesen, die einzelnen Töne einer Glocke zu hören. Das habe auch bei der Produktion geholfen. „Jede Glocke ist etwas Besonders“, sagt Reinhold. „Der Ton ist mächtig, aber er lärmt nicht, er stört nicht.“ Oft werde den Otto-Glocken ein weicher, mächtiger und sonorer Klang zugeschrieben.
Es scheint, als hätten sich die Ottos den perfekten Zeitpunkt für die Gründung ausgesucht. Wurden früher die tonnenschweren Glocken direkt vor der Kirche gegossen, konnten sie durch die Verbreitung der Eisenbahn nun auch problemlos über weite Strecken transportiert werden. Aus wandernden Werkstätten wurden feste Betriebe. Die Firma Otto ließ sich am Feldweg nieder, so hieß die Straße damals noch. Zehn Jahre später wurde aus ihr die Glockenstraße, benannt nach der Gießerei. Es gibt sie heute noch.
Carl und Franz Otto sowie ihre Nachfahren haben Kirchen von Aachen bis Görlitz und von den Nordseeinseln bis nach München beliefert. Auch in Jerusalem gab es Glocken aus der Hansestadt. Die meisten Geläute aus Bremen finden sich aber in Norddeutschland. So hängt die älteste noch erhaltene Otto-Glocke aus dem Jahr 1876 in der St.-Jakobi-Kirche in der Bremer Neustadt. An die 9000 Glocken hat die Bremer Gießerei bis 1974 gefertigt. Dann – 100 Jahre nach Gründung – stellte sie die Produktion ein. So wie viele andere Gießereien zu dieser Zeit.
Es war das Ende des Glockengusses, aber nicht der Firma. Noch heute gibt es ein Unternehmen namens Otto in Bremen; noch heute ist es in Familienhand. Anstatt Glocken herzustellen, hat es sich aber auf die Wartung der Geläute spezialisiert. Sie war auch für Reinhold der Auslöser, sich genauer mit den riesigen Instrumenten zu beschäftigen.
Zum ersten Mal Kontakt hatte Reinhold mit Otto-Glocken 2010. Er arbeitete damals für die katholische Kirche in Bottrop. Wie vielerorts wurden auch im Ruhrgebiet Kirchengemeinden zusammengelegt. Reinholds Job war es, den Wartungsvertrag für die Glocken der vergrößerten Kirchengemeinde zu aktualisieren. Er fragte Angebote bei diversen Firmen an. Manche kamen schon nach zwei Tagen. „Otto hat wesentlich länger gebraucht“, sagt Reinhold. Jedes der Geläute der Bottroper Gemeinde sei ein Unikat, da könne man kein seriöses Angebot abgeben, ohne wenigstens einen Teil gesehen zu haben, hieß es aus Bremen. Dieses Vorgehen habe überzeugt.
Später habe Reinhold, so erzählt er es, dann zusammen mit Dieter Otto, dem jetzigen Firmeninhaber überlegt, die Geschichte des Unternehmens aufzuschreiben. Reinhold machte sich an die Arbeit. Irgendwann sei es aber zu Unstimmigkeiten gekommen; der 67-Jährige beschloss, die Geschichte der Firma alleine aufzuschreiben.
Dabei ist Reinhold nicht nur auf Erfolgsmeldungen gestoßen. In Archiven entdeckte er Kritik an den Glocken. So wurde 1888 den Brüdern in einer Zeitschrift vorgeworfen, die Konkurrenz durch niedrige Preise aus dem Markt zu drängen. Das erste Geläut der Ottos für den Paderborner Dom? Billig und schlecht gegossen, so die Unterstellung.
Dem Erfolg der Bremer Glockengießer konnten diese Vorwürfe nichts anhaben. In Spitzenzeiten arbeiteten etliche Angestellte für die Ottos; sie hatten Niederlassungen in Breslau und im Saarland. Selbst zwei Weltkriege überstand das Unternehmen – aber längst nicht all ihre Glocken. Um Metall für die Rüstungsindustrie zu gewinnen, wurden viele Geläute eingeschmolzen: Von den Otto-Glocken, die bis 1939 gegossen wurden, wurden 77 Prozent in den Weltkriegen vernichtet, darunter auch die zweite Brema, die die Ottos 1925 als Ersatz für den Dom gossen.
Erhalten sind bis heute fast 4400. Dazu zählt auch die dritte Brema. 1962 goss Otto abermals eine Glocke unter diesem Namen, rund sieben Tonnen schwer. Zu hören ist sie noch heute jeden Freitag – mittags, um 15 Uhr und abends. Auch an bestimmten Feiertagen trägt sie alleine ihren Klang über die Bremer Innenstadt. Auch am Buß- und Bettag.