Etwas zaghaft wagt sich das Kiebitz-Küken ins flache Wasser. Es schwimmt, bis es wieder das sichere Grünland erreicht hat. Dort warten drei Geschwister auf den winzigen Vogel. „Wenn Kiebitze vier Junge haben, bietet die Mutter unter ihren Flügeln gerade noch genügend Platz, um sie hudern zu können“, sagt Karin Menke, die im Niedervieland als Schutzgebietsmanagerin tätig ist und regelmäßig die Vogelbestände zählt. „Und weil es im April nachts noch sehr kalt war, ist dieser Schutz für die Kleinen wichtig für ihr Überleben“, sagt sie. Doch die außergewöhnliche Kühle im April hat auch dazu geführt, dass sich das Insektenleben bisher kaum entwickeln konnte – und damit fehle vielleicht eine wichtige Nahrungsbasis für viele Vögel, so Menke.
Dennoch, im Naturschutzgebiet „Ochtumniederung bei Brokhuchting“ können die Naturschützer mit den Entwicklungen der Vogelbestände insgesamt zufrieden sein: „Im Gebiet brüten derzeit mehr als 80 Brutpaare des Kiebitzes“, sagt Karin Menke, „im Jahre 2012 waren es nur 13 Paare.“ Sie führt den steilen Bestandsanstieg dieser selten gewordenen Wiesenvogelart vor allem auf die Wasserhaltung im Gebiet zurück. Eine Rolle spiele aber auch, dass durch die Entfernung von Gehölzen neue Offenflächen entstanden sind, die der Kiebitz braucht, der an eine Rundumsicht zur Feinderkennung angepasst ist.
Von der Aussichtsplattform vor dem Überflutungspolder Brokhuchting-Strom gibt es derzeit jede Menge Vogelleben zu beobachten. „Dies ist wohl derzeit der beste Punkt in ganz Bremen, um Wasservögel zu beobachten“, sagt Birgit Olbrich vom BUND Bremen, die als Schutzgebietsbetreuerin außer in Brokhuchting auch im Werderland arbeitet.
Dämme fassen Polder ein
Grün bewachsene Dämme fassen den Polder südlich der Ochtum ein, der im November jeden Jahres eingestaut wird, um große Flachwasserzonen entstehen zu lassen. Sie werden von einer enormen Zahl von Rastvögeln den ganzen Winter über genutzt, bis das Wasser im Frühjahr stufenweise wieder abgelassen wird. „Wir wollen natürlich nicht, dass die Nester von Wiesenvögeln im Wasser stehen“, sagt Birgit Olbrich, denn Brutvögel wie Bekassine, Uferschnepfe oder Brachvogel mögen zwar feuchte Flächen für die Nahrungssuche, aber für die Anlage der Nester muss der Boden weitgehend trocken sein.
Ab Mitte Juni sind die Flächen in der Regel wieder für die Landwirte als Weiden nutzbar – der Polder dient also gleichermaßen als Futterfläche für Nutztiere, wie auch im Winter vielen Rastvögeln aus dem hohen Norden und Brutvögeln im Frühjahr, die aus ihren Überwinterungsgebieten im Süden kommen.
Die großen Graugänse, Kanadagänse und Nilgänse sind in der Polderfläche besonders auffällig. Wer die weit kleineren, gut getarnten Kampfläufer oder Bruchwasserläufer sehen will, der braucht allerdings ein gutes Fernglas. Denn diese Gäste aus dem hohen Norden laufen in weiter Ferne zwischen den Kormoranen und Möwen umher, die wie aufgereiht vor dem Ufer der Ochtum sitzen. Die Flachwasserzonen, die derzeit noch große Flächen des Grünlands bedecken, locken jedoch auch Enten an wie Magnete, darunter Seltenheiten wie beispielsweise Löffelente oder Knäkente.
Attraktive Schilfbestände
Aber auch die angrenzenden Schilfbestände sind attraktiv, allerdings für eine gänzlich andere Vogelgemeinschaft: „Die stark gefährdete Beutelmeise baut an herabhängenden Zweigen ihre flauschigen Nester aus Spinnweben, Pflanzenfasern und Samenwolle. Sie brütet dieses Jahr in mehreren Exemplaren im Gebiet“, weiß Karin Menke. Eine Rohrammer klammert sich an einen Schilfhalm, und ein Braunkehlchen lässt sich auf einem Zaunpfahl nieder – das Gebiet bietet nicht nur Lebensraum für Wat- und Wiesenvögel, sondern auch für Arten, die hochwüchsige Strukturen brauchen, wie den seltenen Schilfrohrsänger oder den Rohrschwirl mit seinem schwirrenden Gesang.
In den südlich gelegenen Schilfflächen brütet auch die Rohrweihe, und als weitere Greifvögel, die derzeit noch umherziehen, wurden in den vergangenen Tagen Fischadler und Seeadler gesichtet – letzterer hat sich sogar eine Graugans geschnappt. Immer wieder sieht man am Himmel, wie Kiebitze Rabenkrähen attackieren, die es auf ihre Küken abgesehen haben. Doch außer Vögeln sorgen besonders Säugetiere wie Fuchs, Marder und Wiesel dafür, dass unter den bodenbrütenden Vögeln permanenter Feinddruck herrscht. „Eine Gefahr für die Jungvögel geht jedoch auch von der Brokhuchtinger Landstraße aus, die das Gebiet durchschneidet“, sagt Karin Menke, „denn die wenigsten Autofahrer halten sich an das vorgeschriebene Tempo 30, und besonders morgens und abends ist der Berufsverkehr stark. Ich habe selbst beobachtet, wie die Kiebitze ihre Küken über die viel befahrene Straße führen, und auch überfahrene Enten habe ich schon entdeckt“, sagt Karin Menke.
Auch wenn die Gänse im Polder Brokhuchting inzwischen so häufig sind, dass Karin Menke sie schon nicht mehr zählt, vertragen sie sich offenbar ganz gut mit den Wat- und Wiesenvögeln. „Die Gänse halten das Gras kurz, was Arten wie dem Kiebitz besonders zusagt. Und die Gänse als reine Vegetarier machen den Wiesenbrütern, die auf Insekten, Schnecken oder Regenwürmer angewiesen sind, keine Nahrungskonkurrenz“, sagt Karin Menke.