Zahlreiche Archive haben sie durchwühlt, Fotos, Videos und Dokumente gesichtet, mit Zeitzeugen gesprochen und gut 100 Interviews geführt. „Die Recherche war eine wahnsinnige Materialschlacht“, sagt Lydia Liedtke von Urbanscreen. Viel Arbeit für ein großes Projekt: Die Macher des Bremer Künstlerkollektivs aus der Alten Schnapsfabrik in der Neustadt haben in den vergangenen drei Monaten an sechs verschiedenen Lichtkunst- und Medieninstallationen gearbeitet, die an sechs Orten anlässlich einer Festivalwoche in Berlin gezeigt werden. Vom 4. bis 10. November werden in der Hauptstadt der 30. Jahrestag des Falls der Mauer und die Friedliche Revolution vom Herbst 1989 gefeiert. Für diese Festwoche kreierte das Team um die beiden Bremer Geschäftsführer Majo Ussat und Till Botterweck ortsspezifische Fassadenprojektionen.
Projekt mit politischer Tragweite
Warum bekommt ein Bremer Unternehmen einen solchen bedeutsamen Auftrag? Kulturprojekte Berlin, eine gemeinnützige Landesgesellschaft zur Förderung von Kunst und Kultur, hatte das Vorhaben ausgeschrieben. Die bremische Künstlergruppe Urbanscreen reichte ein Konzept ein und überzeugte. „Wir haben schon bewiesen, dass wir solche großen Projekte umsetzen können“, sagt Majo Ussat. Es sei eine Herausforderung unter der Beteiligung von zahlreichen Parteien und Institutionen solche Projektionen zu verwirklichen. Das Projekt habe zudem eine politische Tragweite und erfordere auch Diplomatie.
Ganz Berlin soll in dieser Festwoche in ein großes Open-Air-Veranstaltungsgelände verwandelt werden. Mehr als 200 Events soll es an sieben Originalschauplätzen geben. Für sechs historisch bedeutende Orte der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls in Berlin – Gethsemanekirche, Alexanderplatz, die ehemalige Stasi-Zentrale, Humboldt Forum im Stadtschloss (ehemaliger Palast der Republik), Europa-Center am Breitscheidplatz und East Side Gallery – haben die Bremer eigene Projektionen erstellt, die an den Gebäudefassaden inszeniert werden.
„Es soll ein kollektives Erleben werden“, sagt Ussat, der für die Gesamtprojektorganisation zuständig ist. Vor 30 Jahren hätten auch alle gemeinsam vor dem Fernseher gesessen und die Ereignisse verfolgt, ergänzt Till Botterweck, der die künstlerische Leitung inne hat und die Contentproduktion verantwortet. Am Humboldt Forum werde beispielsweise gezeigt, wie damals draußen Zehntausende Demonstranten „Wir sind das Volk“ riefen und drinnen der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und SED-Generalsekretär Erich Honecker aufeinander trafen.
Sechs Szenarien an sechs Orten
An der Stasi-Zentrale gehe es um das Thema Überwachung und Unterdrückung – an die Fassade werden Dia-Projektionen geworfen, dazu gibt es Musik und O-Töne. Auf diese Art und Weise haben die Lichtkünstler von Urbanscreen sechs unterschiedliche Geschichten kreiert, die die Ereignisse der jeweiligen Originalschauplätze vor und nach dem Mauerfall erzählen. Es soll ein erzählerischer Bogen von den Formierungsprozessen der Opposition bis hin zum demokratischen Aufbruch der DDR gespannt werden. Als Höhepunkt der Dramaturgie der Beiträge gibt es an allen sechs Orten zeitgleich die ikonischen Bilder aus der Nacht des Mauerfalls zu sehen. „Am Ende stellen wir zudem einen aktuellen Bezug durch Interviews her, die wir in Berlin geführt haben“, erklärt Lydia Liedtke. Dabei wolle man vor allem Emotionen bei den Zuschauern erzeugen. Die Aufnahmen aus rund 100 Gesprächen seien multiperspektivisch und beschäftigen sich mit Fragen wie „Was ist Glück“ oder „Was ist mit der Überwachung 2.0“.
Damit die 3D-Videoprojektionen millimetergenau auf die Gebäudefassaden passen, haben die Mitarbeiter des Bremer Unternehmens die Gebäude gescannt, um sie in Modellen darstellen zu können. In speziellen 3D-Programmen werden dann die Projektoren virtuell eingesetzt, um an den Miniaturmodellen zu prüfen, wie viele der optischen Geräte benötigt werden, erklärt Botterweck. An die 50 Projektoren werden in Berlin eingesetzt werden, um zusammengerechnet 80 Minuten Show zu zeigen. An der gesamten Vorbereitung und Umsetzung haben rund 50 Personen gearbeitet, sagt Ussat. „Das ist das größte Projekt, das wir je gemacht haben“, so der Geschäftsführer. Dafür sei es, was die Planungszeit angehe, sehr kurz gewesen. Noch sei man mitten in der Abstimmung.
Die Nachfrage nach Lichtkunst ist groß. Das Unternehmen Urbanscreen setzt mit acht Festangestellten nach eigenen Angaben sechs bis zehn Projekte im Jahr um. Diese funktionieren auch als Exportschlager. So konzipieren die Bremer zum Deutschlandjahr in Washington, Indianapolis und Atlanta riesige Lichtkunstinstallationen oder aber sie projizierten Arbeiten auf das Sydney Opera House, die Hamburger Galerie der Gegenwart oder die Rice University in Houston.