Seit Monaten erhitzt die Diskussion über die Zustände im, am und um den Bremer Hauptbahnhof die Gemüter. Erste Verbesserungsmaßnahmen wurden angeschoben. Denn durch offenen Drogenhandel und -konsum, Kriminalität, Dreck und aggressive Bettelei fühlen sich die Menschen, darunter viele Pendler und Touristen, dort nicht sicher. "Wie sollen sich erst die Menschen fühlen, die dort wohnen und ständig in Angst leben?", rückt Charlotte Schmitz obdachlose Frauen in den Fokus.
Sie seien dauerhaft der Gefahr von sexualisierter Gewalt ausgesetzt, berichtet die 26-jährige Bremerin aus der Neustadt. "Ich weiß zu viel von ihren Problemen, deshalb konnte ich nachts nicht mehr schlafen. Ich musste etwas tun."
Nun kämpft Charlotte Schmitz mit rund 20 anderen aktiven Mitgliedern des Vereins Liela für einen neuen offenen und anonymen Treff für obdach- und wohnungslose Frauen. "Wo sie die Tür hinter sich schließen und sich sicher fühlen können, um zur Ruhe zu kommen", präzisiert die 2. Vorsitzende. Der Treff soll auch für Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen eine Zuflucht sein und in der Bahnhofsvorstadt West liegen. Ihre Vision und die ihrer Mitstreiterinnen und -streiter aus verschiedenen Berufen und Generationen für die neue Anlaufstelle hat bereits einen Namen: Liela-Punkt.
In Bremen gebe es zwar Hilfsangebote für Obdachlose, aber die seien nicht speziell auf die Bedürfnisse aller betroffenen Frauen ausgerichtet, erklärt die Liela-Gründerin. "Das ist das Hauptproblem." Denn einen sicheren Ort hält die 26-Jährige für unverzichtbar, um obdachlose Frauen vor brutalen Übergriffen und sexualisierter Gewalt zu schützen. Eine Kooperation mit bestehenden Trägern schließen die Liela-Aktiven aufgrund deren Größe und gefestigter Strukturen aus. "Wir wollen Gemeinnützigkeit und kein Geschäftsmodell", sagt Charlotte Schmitz.
Die Straße sei im Prinzip ein rechtsfreier Raum, weiß sie aus Gesprächen mit obdachlosen Frauen, denen häufig das Stigma als Prostituierte anhafte, die Männer nicht bezahlen müssten. Aus Angst vor sexuellem Missbrauch würden einige laut Schmitz an einer Beziehung mit einem gewalttätigen Mann festhalten. Andere beklagten, dass die Polizei ihnen nicht glaube – die Täter also nichts zu befürchten hätten.
Auf die Ängste obdachloser Frauen hat Markus Urban vom Aktionsbündnis "Menschenrecht auf Wohnen" Charlotte Schmitz aufmerksam gemacht. Der Diplom-Informatiker hat selbst mehrere Jahre auf der Straße gelebt. Ihn hat die gebürtige Krefelderin, die 2015 für ein Politikmanagement-Studium nach Bremen gezogen ist, durch ihr politisches Engagement kennengelernt. "Er hat bildreich und ungefiltert erzählt", erinnert sich die aktive Feministin an ihren ersten "Realitätsschock".
Urbans Schilderungen hätten sie aufgewühlt. Sie hat intensiv im Internet recherchiert, stundenlang Youtube-Videos geguckt und direkten Kontakt zu obdachlosen Frauen gesucht. "Ich versuche, Kleinigkeiten zu ändern", erzählt die Studentin und bemüht sich um einen "normalen Umgang" mit Betroffenen, grüßt sie, schenkt ihnen ein Lächeln oder ein paar Münzen. Dafür habe sie meistens Kleingeld in der Tasche, verrät sie.
Nachdem sie einem guten Freund von der Not dieser Frauen erzählt hätte, sei er ebenso entsetzt und betroffen gewesen wie sie, berichtet die Wahlbremerin, die derzeit ihre Masterarbeit im Studiengang Komplexes Entscheiden schreibt. "Und ich glaube, so geht's uns allen", sagt sie über den durch persönliche Kontakte gewachsenen Aktivenkreis, der über die sozialen Medien auch ihre Idee für den "Liela-Punkt" verbreitet hat, sodass im Oktober 2022 der gemeinnützige Verein "Liela" seine Arbeit aufnehmen konnte.
Weil basisdemokratisches schnellstmögliches Handeln oberstes Ziel ist, wurden Arbeitsgruppen gebildet. "Der erste Schritt ist die direkte Unterstützung der obdachlosen Frauen", berichtet Charlotte Schmitz. So versucht die Support-AG, die wichtigsten Bedürfnisse zu decken, wozu unter anderem Hygieneartikel zählen, und hat schon eine Kleiderspendenaktion mit einem Secondhandladen initiiert. Ferner wünscht sich der Verein für die Erhebung zwei Streetworker zur Unterstützung. Das mittelfristige Ziel ist ihr zufolge der "Liela-Punkt" als Tages- und Abendtreff. Eine Obdachlose hat ihr auf die Frage nach ihren Wünschen sogar anvertraut: "Eine Freundin."
Wegen der großen Aufgabe sind aus der Sicht der Wahlbremerin die AG für die Akquise von Fördergeldern und die für Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit gerade sehr wichtig. "Wir müssen mit unseren Ressourcen haushalten, das ist kein Sprint, sondern ein Marathon", betont die Studentin. In der Startphase von "Liela" habe sie "vom zeitlichen Aufwand her ehrenamtlich eine halbe Stelle als Teilzeitjob gemacht", schaut die Frau zurück, die sich zuvor freiwillig für Amnesty International und die "Seebrücke" engagiert und zudem feministische Freiwilligenämter ausgeübt hat.