Für einen Moment scheint es, als werde Gerd Reichstein jetzt doch noch ein bisschen wehmütig. „Da mache ich heute ja noch mal eine richtig schöne Abschiedsfahrt“, sagt der Kapitän. Seit fast zwei Stunden steuert er die MS „Senator“ die Weser hinab. Er hat das unaufgeregt wie immer getan. Als er erfahren hat, dass ihn auf seiner letzten Fahrt ein Reporter des WESER-KURIER begleiten wird, hat er kurz genickt. Wenn’s so sein soll, na gut, sollte das wohl heißen.
Jetzt aber, als rechts und links am Ufer der Lesum die Sport- und Segelboote wie die Perlen einer Kette liegen, wirkt Reichstein, 77 Jahre alt, fast ergriffen. Vorhin hat er über das Bordmikro gesagt: „Und weil Sie so nette Gäste sind, machen wir einen Abstecher und fahren die Lesum hoch bis Bremen-Burg.“ Reichstein stützt jetzt den Ellenbogen aufs Steuerrad und blickt versonnen ins Freie. Vielleicht macht er diesen Abstecher ein klitzekleines bisschen ja auch für sich selbst.

Die MS „Senator“ wird man noch häufiger so sehen – aber ohne Gerd Reichstein an Bord.
Ruhig ist es hier draußen, viel Grün, Schilf, Bäume, akkurat gemähte Rasenflächen, die zu Häusern gehören, „die wir uns nicht leisten können“, sagt Reichstein zum Reporter und schmunzelt. Dann greift er zum UKW-Funkgerät, genug der Sentimentalität. „Wie wär’s denn mal mit einem Kaffee für hier oben?“, fragt er in den Hörer. Maschinenwart Matthias Schulte, unter Deck und Reichsteins Partner auf diesem Schiff seit elf Jahren, wird ihm einen organisieren.
Gerd Reichstein, „Reichstein wie steinreich“, ist ein Mann der ersten Stunde auf der MS „Senator“. 1979 wurde sie als erste Senatsbarkasse Bremens in Dienst gestellt. Reichstein gehörte unter Kapitän Herbert Garlich zur Besatzung. 1,7 Millionen D-Mark kostete das Schiff seinerzeit; 26,18 Meter lang, 6,44 Meter breit, Tiefgang 1,65 Meter, gebaut bei der Jacht- und Bootswerft Burmester an der Lesum in Bremen-Burg. Zwei Daimler-Benz-Maschinen mit je 350 PS schaffen eine Geschwindigkeit von 12,5 Knoten.
Der Stolz des Senat
Das sind die Fakten, die aber nicht verraten, wie wichtig der Stadt Bremen damals der Bau dieses Schiffes war. Die MS „Senator“ war der Stolz des Senats, vor allem von Hafensenator Oswald Brinkmann. Den hatte nämlich lange Jahre gewurmt, dass Bremen keine Senatsbarkasse hatte. „Hamburg dafür aber gleich mehrere“, erinnert sich Reichstein. Die norddeutschen Stadthäfen boomten zu der Zeit, und Bremens Politiker wollten hochrangigen Gästen zeigen, wie sehr. „Prunkstück ist der große Salon“, titelte der WESER-KURIER am 14. März 1979, dem Tag nach der Taufe.
Im Salon haben heute ehemalige Krankenhaus-Manager und ihre Begleitungen Platz genommen. Die Männer und Frauen kommen aus dem Saarland, Sachsen-Anhalt oder Hamburg. Einmal im Jahr trifft man sich seit der Pensionierung zum gemütlichen Beisammensein, diesmal auf der MS „Senator“. Der Tisch ist weiß gedeckt, es gibt Sekt und ein paar Häppchen als Imbiss. 35 Gäste hätten hier Platz. Auf einem Extratischchen ist eine Flaggensammlung drapiert, Kanada, Norwegen, Schweiz, Bremische Hafenvertretung, Spanien, Niedersachsen und Werder. Weil die Fenster abgeschrägt sind, hat der Fahrgast auch im Sitzen beste Sicht, ein unverstellter Panoramablick auf Bremen vom Wasser aus.

Ist klar, wozu die MS „Senator“ gehört, oder? Wappen mit dem Bremer Schlüssel.
Wesertower, das ehemalige Kellogg-Gelände, gleich kommt die Waterfront, aber vorher biegt Kapitän Reichstein noch in den Holz- und Fabrikhafen ab. Die Leute sollen ja was zu sehen haben. Als er zurück auf der Unterweser ist, taucht Backbord die Einfahrt zum Neustädter Hafen mit ihrem markanten Radarturm auf, „mein alter Arbeitsplatz“, sagt Reichstein.
Er ist als Sohn eines Binnenschiffers in Bevergern groß geworden, war mit 19 schon Schiffsführer und hatte mit 21 sein Patent für Güter- und Motorschiffe. Mit 38 hat er sich noch einmal verändert. Hat sich beim Hafenamt Bremen und bei Mercedes in Bremen beworben. Der Job beim Autobauer sprach ihn durchaus an, doch als es um die Gehaltsvorstellungen ging, fanden beide Seiten nicht zueinander. „Die wussten offenbar nicht, wie gut man damals in der Schifffahrt verdient hat“, sagt Reichstein. Außerdem hat er sich selbst noch einmal geprüft, „und dann hat das Wasser doch wieder gewonnen“. Also Hafenamt bis zur Pensionierung.
Peter Maffay auf Schnitzeljagd
Die MS „Senator“ erlebte in jenen Jahren eine Zeit, die man durchaus wechselhaft nennen darf. Sie hatte hochrangige Gäste an Bord. Den König von Tonga zum Beispiel, der auf dem Weg zur Hochzeit von Prince Charles und Lady Di einen Abstecher machte, „für ihn musste ein Extrastuhl herangeschafft werden“, sagt Reichstein. Seine Hoheit war, nun ja, sehr, sehr füllig. Ein anderer Gast, an den sich Reichstein gern erinnert, ist Peter Maffay. Sehr uneitel. Radio Bremen hatte den Musiker im Rahmen seines Formats „Schnitzeljagd“ auf der MS „Senator“ „versteckt“. Das Gästebuch verrät außerdem, dass 1979 eine Abordnung des Revolutionskomitees aus Schanghai mitgefahren ist.
Es zeichnete sich aber früh ab, dass die MS „Senator“ eine ganz schöne Stange Geld kostete, allein 100 000 Mark betrug der Unterhalt pro Jahr. Nicht einmal die Hälfte davon holte das Schiff selbst wieder rein. 1993 war es dann so weit, dass das Schiff auf der Fassmer-Werft in Berne gründlich aufgemöbelt werden musste. Achtern kam zum Beispiel ein Decksaufbau als Mannschaftskabine hinzu. Kostenpunkt: 400 000 Mark. Später rügte der Rechnungshof, die „Senator“ sei viel zu teuer. 2004 wurde sie schließlich stillgelegt.
Nun geht es vorbei am Hasenbürener Jachthafen, Steuerbord die Moorlosen Kirche und nur noch ein paar Minuten, dann ist Vegesack in Sicht. Heute ist nicht besonders viel los auf der Weser, Kapitän Reichstein muss jetzt aber überlegen, ob er ein Segelboot überholt. „Wir machen ja schon ein paar Wellen“, sagt er. Manchmal finden Freizeitkapitäne das nicht lustig, neulich hat sich sogar einer schriftlich über den Wellengang beim Verein beschwert. Reichstein nimmt’s, wie es ist. Der gelegentliche Ärger beruht auf Gegenseitigkeit. „Es gibt auch Sportsegler, die kreuzen“, sagt er, Verkehrsrowdys nicht nur auf der Straße, sondern auch auf dem Wasser. Die MS „Senator“ überholt den Segler.
Rettung vor 13 Jahren
Dass Reichstein an diesem Tag die MS „Senator“ überhaupt steuern kann, hat er einer Gruppe von Bremer Kaufleuten und Reedern zu verdanken. Sie haben die MS „Senator“ vor 13 Jahren gerettet. Sie kauften der Stadt das Schiff ab, holten es aus Bremerhaven nach Bremen zurück, gründeten den Verein MS Senator, und seitdem liegt es schräg unterhalb der Jugendherberge an der Schlachte.
Der Liegeplatz kommt jetzt, nach über vier Stunden Fahrt, wieder in Sicht. Noch einmal anlegen, noch einmal festmachen, noch einmal an Bord nach dem Rechten schauen. Dann verlässt Kapitän Gerd Reichstein das Schiff. Für immer. Für immer? Seine Nachfolger auf der MS „Senator“ hat er im vergangenen Jahr eingearbeitet. Vor ein paar Minuten hat er trotzdem gesagt oder vielleicht auch nur laut gedacht: „Ach, wer weiß, wenn einmal Not am Mann ist, dann sage ich bestimmt nicht Nein!“