Der Blick auf die kommenden Wochen erfüllt Kathrin Moosdorf, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes Bremen, mit Sorge. Denn dass ein Normalbetrieb in Kitas und Schulen vorerst nicht in Sicht sei, verschärfe die Lage für Eltern und Kinder. „Vor der Krise schon gefährdete Familien stehen in diesen Tagen zusätzlich unter Druck“, sagt Moosdorf. Nicht nur der Kinderschutzbund sorgt sich: Auch Bildungsexperten warnen davor, was vor allem die Schließung der Kitas für die Jüngsten bedeuten könne.
Gefährdete Familien, darunter versteht Moosdorf jene, die sich durch soziale Benachteiligung ohnehin in einer schwierigen Lebenssituation befinden. Wer aufgrund eines geringen Einkommens nun um seine Existenz fürchte, zu Hause für Mahlzeiten sorgen müsse und mit mehreren Kindern in kleinen Wohnungen mit wenigen Zimmern, ohne Schreibtisch und ohne Computer auskommen müsse, sei besonders belastet. Die betroffenen Kinder könnten ohne digitale Geräte weder zu Hause lernen noch Kontakt zu Freunden herstellen, auch zurückziehen könnten sie sich meist nicht. „In diesen Lebenssituationen erhöht sich der Stress“, sagt Moosdorf. „Wenn der Druck steigt, steigt die Gewalt.“
Unter dem Sammelbegriff „häusliche Gewalt“ verbirgt sich laut Moosdorf eine Vielzahl von Dingen, die Kinder in ihren Familien erlebten: Dies reiche von körperlichen und sexuellen Übergriffen bis hin zu Beziehungsgewalt zwischen den Eltern. „Die psychischen Folgen sind bei allen Erlebnissen gleich“, sagt Moosdorf.
Kindern fehle in diesen Tagen der Kontakt zu Freunden. Dies treffe vor allem die Kleinsten, die beispielsweise nicht über soziale Netzwerke kommunizieren könnten. Das hätten die Mitarbeiter des Kinderschutzbundes auch bei der Hilfshotline „Nummer gegen Kummer“ festgestellt: In den vergangenen Wochen sei die Zahl der Anrufe gestiegen, sowohl von Kindern und Jugendlichen als auch von Eltern. Die Themen, sagt die Geschäftsführerin, seien allerdings die gleichen wie vor der Corona-Krise: Stress, Gewalt, Liebeskummer.
Netzwerke fallen weg
Geschlossene Kitas, Schulen und Horte seien auch deshalb ein Problem, weil damit Netzwerke wegfielen, durch die Erzieher und Lehrkräfte einen Blick auf die Kinder hätten. „Sie werden auf Probleme aufmerksam und bauen dann Brücken zwischen Betroffenen und Hilfsorganisationen“, betont Moosdorf. Deswegen hofft die Geschäftsführerin, dass sich gerade Kinder aus benachteiligten Familien – unter Einhaltung des Infektionsschutzes – in den kommenden Wochen zwei- bis dreimal in festen Kita- oder Schulgruppen treffen können. „Unterbindet man die sozialen Kontakte von Kindern, verstößt das gegen die Kinderrechte.“
Auch Ilse Wehrmann, Expertin für Frühpädagogik, warnt vor erheblichen Folgen der Corona-Krise für die Kleinsten. „Kinder brauchen andere Kinder“, sagt sie. „Sie wollen unter ihresgleichen sein.“ Freunde zu treffen sei für Kinder ebenso wichtig wie für Erwachsene; Kontakt über Smartphones, Whatsapp oder Videotelefonate sei für Kleinkinder keine Option. Das habe negative Auswirkungen: „Die jetzige Zeit wird erhebliche soziale und emotionale Schäden bewirken“, meint Wehrmann. „Die Politik hat die Jüngsten vergessen.“ Denn während der Bildungsrückstand aufgeholt werden könne, werde die soziale Entwicklung von Kita-Kindern in diesen Tagen erheblich zurückgeworfen.
Wehrmann schlägt, ähnlich wie der Kinderschutzbund, ein Modell vor, um zumindest den Kita-Betrieb wieder aufzubauen: eine wochenweise Betreuung von Kleingruppen zum Beispiel, damit Kinder wieder unter Gleichaltrigen sein können. Besonders wichtig sei es, Kindern die baldige Rückkehr in die Kita zu ermöglichen, die kurz vor der Einschulung stehen. Laut Wehrmann brauchen sie die Möglichkeit, sich von Freunden und Erziehern gebührend zu verabschieden. Zusätzlich könnte durch ein wochenweises Betreuungsmodell auch Eltern entlastet werden. Denn auch Wehrmann befürchtet, dass die Isolation der Familien das Potenzial für häusliche Gewalt steigern könne.
Der Weisse Ring geht davon aus, dass in diesen Tagen viele Übergriffe hinter verschlossenen Türen geschehen. „Ohne Schulen und Kitas fehlen momentan die Kontrollmechanismen“, sagt die Bremer Landesvorsitzende, Margaret Hoffmann. Bisher registriert die Hilfsorganisation keinen Anstieg von gemeldeten Fällen, allerdings geht Hoffmann davon aus, dass sich das ganze Ausmaß erst nach dem Ende der Krise zeige.