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EU-Kommissionsvertreter im Interview Diese Rolle spielt die Europäische Union für Bremen

Kommissionsvertreter Jörg Wojahn über die Bedeutung der EU für den Zwei-Städte-Staat, grüne Reformen nach der Corona-Krise und welche Auswirkungen der Brexit auf die verbliebenen Mitgliedstaaten hat.
11.03.2021, 05:00 Uhr
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Diese Rolle spielt die Europäische Union für Bremen
Von Lisa Urlbauer

Was haben Bremerinnen und Bremer von der Europäischen Union?

Jörg Wojahn: Für Bremen als exportstarkes Bundesland ist Europa einerseits ein wichtiger Markt für seine Produkte und Dienstleistungen und andererseits ein Garant für die Weltmärkte. Im Binnenmarkt kann man ohne Mengenbegrenzung, ohne Zölle und vor allem ohne Papierkram exportieren. Mit unseren Handelsabkommen und unserem Engagement in der Welthandelsorganisation (WTO) halten wir als EU die Weltmärkte offen. In Bremen überstrahlt das alle Vorteile, die es sonst noch gibt.

Bremen ist aber auch das ärmste Bundesland. Wie will die EU eine sozialere Union aufbauen, wenn eines der wichtigsten Mittel, der Europäische Sozialfonds, stark gekürzt wird?

In Europa gibt es noch viel ärmere Gegenden. Deswegen ist es schwer zu vermeiden, dass manche nun weniger bekommen. Strukturschwache Städte und Regionen in Deutschland erhalten aber immer noch einen erheblichen Anteil. Zu Recht kann Bremen enttäuscht sein, dass die Fördermittel in der kommenden Periode geringer sind als in der vergangenen. Bremen profitiert aber davon, wenn es anderen Regionen in Europa besser geht, mit denen das Land Handel treiben kann. Außerdem ist ein sozialeres Europa nicht nur eine Frage des Geldes, das wir als Förderung ausschütten. Wir versuchen mit ganz neuen sozialen Programmen, wie einem europaweiten Kurzarbeitergeld, sicherzustellen, dass Menschen in der Corona-Krise nicht ins Bodenlose fallen.

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Abgesehen vom Kurzarbeitergeld, wie will die EU die Folgen der Pandemie abfedern?

Wir haben einen Einbruch, der in den vergangenen Jahrzehnten Seinesgleichen sucht. Das hat die EU-Staaten dazu gebracht, so viel Geld wie noch nie in die Hand zu nehmen, insgesamt 1,8 Billionen Euro. Wir machen natürlich die normalen Förderungen weiter, wenn auch hier und da etwas gekürzt, aber wir wollen auch strukturelle Probleme angehen. Es würde auch Wachstum bringen, wenn wir an die in Bremen gebauten Limousinen goldene Türgriffe schrauben. Wir wollen aber fördern, dass die Wirtschaft klimafreundlicher wiederaufgebaut und die Digitalisierung vorangetrieben wird.

Das Reformpaket dient also als Trojanisches Pferd für grüne Reformen.

Das ist ein sehr negativer Begriff. Er ist ein Vehikel, um grüne Reformen voranzutreiben, die sonst vielleicht auch aus akutem Geldmangel nicht sofort hätten vorgenommen werden können. Jetzt haben wir aber so viele Mittel zur Verfügung wie lange nicht. Für Bremen ist zum Beispiel die Umstellung der Stahlproduktion auf Wasserstoff interessant, der durch grüne Energien wie Wind oder Sonne gewonnen wird. Der Eigentümer hat ja auch schon Interesse bekundet, dass er in diesem Bereich investieren würde. Als Europäer wollen wir die Rahmenbedingungen für solche Projekte schaffen und sie gegebenenfalls finanziell fördern.

Welche Bedeutung haben Regionen wie Bremen für die EU?

Der Ausschuss der Regionen wird im Gesetzgebungsprozess konsultiert, aber wir wollen auch in den einzelnen Politiken mitdenken, dass nicht nur in den Hauptstädten entschieden wird. Im Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ muss jeder Staat einen Plan mit Projekten und Reformen vorlegen, der mit den Regionen abgesprochen werden muss. In Deutschland werden die EU-Fördermittel seit Jahrzehnten auf regionaler Ebene verwaltet. Wegen der EU-Förderung gibt es aber auch in sehr zentralistischen Staaten wie Frankreich oder Portugal mittlerweile Regionen, die mehr zu sagen haben.

Der Brexit ist nun offiziell durch. Droht die EU weiter auseinanderzubrechen?

Im Gegenteil: Alle, die mit dem Gedanken gespielt haben, ob aus Leichtsinnigkeit oder Populismus, haben gesehen, was der Brexit bedeutet. Gerade in Staaten, in denen es nationalistische Bewegungen gibt und gab, wird nicht mehr davon gesprochen, dass sie aus der EU austreten wollen. Natürlich sind sie immer noch sehr EU-kritisch. Aber es war ein heilsamer Schock für viele und hat auch bei Parteien der Mitte dazu geführt, nicht mehr so leichtsinnig mit der EU umzugehen. Alle haben verstanden, dass die europäische Einigung nicht selbstverständlich ist, sondern umkehrbar.

Was hält die verbliebenen 27 Mitgliedstaaten zusammen?

In Europa gibt es vergleichsweise nur kleine Staaten oder Staaten, die jetzt erst kapiert haben, dass sie im globalen Konzert der Mächte klein sind. Staaten wie China drängen massiv nach vorne und wollen ihre Werte und Vorstellungen exportieren. Das ist eine Erkenntnis, die vor zwei Jahren noch nicht so weit entwickelt war – auch in Deutschland. Alle haben verstanden, dass unser Wohlstand, unsere Position und unsere wirtschaftliche Stellung in der Welt bedroht ist und dass die Antwort darauf nur sein kann, dass wir unsere Kräfte bündeln und dadurch stärker werden. In der Welt herrscht ein eisiger Wind, da ist es besser, sich zusammenzukuscheln.

Es muss also mehr europäische Einigung geben?

Dafür haben wir sehr gute Beispiele, wie der Beschluss, dass wir aus der Corona-Krise nur gemeinsam rauskommen und Anleihen auf den Finanzmärkten aufnehmen, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Das hätten wir uns vor zwei Jahren nicht vorstellen können. Nehmen Sie auch die Impfstoffbeschaffung: Allein der Beschluss, zu sagen, dass wir das gemeinsam tun, war ein riesiger Fortschritt.

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Ist das die so oft beschworene europäische Solidarität?

Solidarität ist eine der Säulen der EU. Wichtig ist aber auch, dass viele Staaten ihr Eigeninteresse erkannt haben. In der Finanzkrise gab es in Deutschland viele Widerstände, mit den anderen Staaten solidarisch zu sein, in der Corona-Krise war das sehr früh anders. Dass wir Italien anbieten, Patienten in deutsche Krankenhäuser zu bringen, weil ihre überlastet sind, ist reine Solidarität. Eigeninteresse ist so zu verstehen, dass, wenn es Italien schlecht geht, es auch Deutschland schlecht geht. Dieser umfassendere Blick auf das Eigeninteresse ergänzt die Solidarität, denn Solidarität allein reicht nicht. Die EU ist ein Konstrukt, das beides zusammenbringt.

Aber gerade in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik hapert es an der Solidarität.

Es ist unser größtes offenes Thema und das am schwierigsten zu lösende. Deutschland hatte versucht, mit unserem Vorschlag für einen Migrationspakt im September den Gordischen Knoten zu durchschlagen (u.A. mit einem mehrstufigen System und finanziellen Anreizen, Anm. d. Red.), aber so schnell kann das nicht gehen. Es gibt drei verschiedene Interessensgruppen: Die Staaten an den Außengrenzen im Süden, die sich mit den Menschen befassen müssen, die dort ankommen. Die Staaten, die aus Prinzip niemanden aufnehmen wollen. Und die in der Mitte, die nicht unbedingt etwas dagegen haben, jemanden aufzunehmen, aber geografisch in einer gemütlicheren Position sind. Diese Interessen müssen wir ausgleichen. Was nicht leicht ist, weil Staaten, die niemanden aufnehmen wollen, sich in ihrer Position eingegraben haben.

Sie arbeiten seit 2004 für die EU. Wie blicken Sie auf die nächsten 17 Jahre Europa?

Wir werden noch enger zusammenwachsen und einige Sprünge in der europäischen Einigung machen, gerade in der Außenpolitik und auch in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Das müssen wir, um in dieser Welt zu bestehen.

Zur Person

Zur Person

Jörg Wojahn (49), repräsentiert seit 2019 als Vertreter die Europäische Kommission in Deutschland. Seine europäische Karriere hat er 2004 als Sprecher des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung in Brüssel begonnen.

Info

Zur Sache

Zurück im Haus der Bürgerschaft

Nach der Sanierung des Gebäudes ist nun auch der Europa-Punkt-Bremen (EPB) zurück ins Haus der Bremischen Bürgerschaft am Markt gezogen. Der EPB ist seit 2007 eines der europaweiten Europe-Direct-Informationszentren, die die Europäische Kommission ins Leben gerufen hat. Ihre Hauptaufgabe ist es, Bürgerinnen und Bürger über EU-Themen zu informieren und ihre Fragen zu politischen Aktivitäten, der europäischen Integration und ihren Rechten zu beantworten, die ihnen als Unionsbürgern zustehen. An der Wiedereröffnung nehmen Bürgerschaftspräsident Frank Imhoff (CDU) und Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und Europa Kristina Vogt (Linke) teil sowie Jörg Wojahn, Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland.

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