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Bremer Psychologe über Einsamkeit „Neue Erfahrungen können helfen“

Peter Bagus ist Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin am Klinikum Bremen-Ost. Im Interview erläutert wer, welche Patienten mit auffälligen Rückzugstendenzen zu ihm kommen und wie er sie behandelt.
01.08.2019, 06:00 Uhr
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„Neue Erfahrungen können helfen“
Von Silke Hellwig

Herr Bagus, inwiefern haben Sie es in Ihrer beruflichen Praxis mit einsamen Menschen zu tun?

Peter Bagus: Einsamkeit tritt auch da auf, wo man sie nicht vermutet. Wir haben beispielsweise Patienten, die scheinbar nicht einsam sind, sondern in ihren Systemen funktionieren. Sie arbeiten oft sehr viel, haben aber keine Zeit, sich um Familie und Freunde zu kümmern. Der gesamte Bezugsrahmen bei diesen Menschen ist auf die Arbeit fokussiert. Daraus folgt auch, dass der Eintritt in den Ruhestand ein Risikofaktor sein kann. Diese Menschen merken oft gar nicht, dass sie mehr und mehr in eine Isolation geraten. Die Folge sind oft Erschöpfung und Resignation, auch Verzweiflung.

Und irgendwann sitzen Sie bei Ihnen?

Oft entwickeln sich daraus ernsthafte psychosomatische Erkrankungen, von einem Rückzugsverhalten bis hin zu schweren Depressionen und Suizidalität. Soziale Einsamkeit ist ein Risikofaktor für Burn-out-Syndrome, Depressionen, Angststörungen und für eine Chronifizierung anderer, schon vorhandener Beschwerden wie organischen Erkrankungen.

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In der Debatte um ungewollte Einsamkeit geht es vor allem um hochbetagte Menschen, deren Freundeskreis durch Tod und Krankheit verkümmert. Haben Sie auch junge Patienten?

Unbedingt. Es gibt junge Menschen, deren sämtliche Kontakte sich auf das Internet beschränken, oft auf Internet- und Rollenspiele. Diese Kontakte sind meist nicht übersetzbar in den tatsächlichen Lebensalltag. Diese Menschen sind oft einsam, das kann sich soweit manifestieren, dass sie nicht mehr in der Lage sind, soziale Beziehungen aufzubauen und auszuhalten. Diese Gruppe von Patienten entwickeln häufig schwere Angst- und Paniksymptome, sodass sie sich immer weiter zurückziehen.

Das heißt, dass ihre familiären Bindungen auch keinen Halt mehr bieten können?

Oft sind Eltern oder Großeltern lange die, die dieses System noch mit aufrechterhalten und die nötige Dinge erledigen. Wenn sie krank werden oder nicht mehr unterstützen können, kommt es oft zu einer ernsthaften Krise.

Sind davon eher junge Männer betroffen?

Das ist richtig, aber wir haben auch junge Frauen, die sich sozial stark isolieren. Dazu gehören beispielsweise Frauen mit Essstörungen. Ihr soziales Umfeld bleibt meist auf der Strecke, weil sich diese Patientinnen irgendwann nur noch mit ihrer Erkrankung beschäftigen. Damit nimmt meist auch die soziale Kompetenz ab, sich auf andere auszurichten.

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Kommen überhaupt Hochbetagte zu Ihnen?

Nein, das liegt vermutlich auch daran, dass Menschen dieses Alters noch größere Ressentiments gegenüber dem Psycho-System haben. Das wird sich vermutlich ändern, weil die nächsten Generationen die Hürde, sich einem Arzt oder Therapeuten anzuvertrauen, leichter nehmen wird.

Die Menschen, die zu Ihnen in die Ambulanz kommen, stellen sich vermutlich nicht mit dem Symptom Einsamkeit vor . . .

Nein, sie kommen nicht, weil sie merken, dass ihnen ein sozialer Bezugsrahmen fehlt. Sie kommen erst, wenn es ihnen schon schlecht geht, wenn sie berichten, dass sie nicht mehr zur Ruhe kommen oder nicht mehr schlafen können, dass ihnen das Leben entgleitet und sie nicht mehr weiter wissen.

Wer unter Einsamkeit leidet, wird eventuell auch gar nicht wissen, an wen er sich wenden soll. Er ist schließlich nicht krank im engeren Sinne . . .

Vereinsamte Menschen suchen erst ärztliche Hilfe, wenn aus der Einsamkeit Depressivität wird. Das ist kein zwangsläufiger Mechanismus. Viele einsame Menschen wären dankbar, wenn sie einen Anlaufpunkt hätten, wie es sie von der Kirche, der Arbeiterwohlfahrt und ähnliche Organisation gibt, und teilhaben können.

Was können Sie tun, wenn Sie einen jungen Menschen hier sitzen haben, der sich schon sehr isoliert hat?

Meist ist in solchen Fällen ein stationärer Aufenthalt hilfreich. Damit dieser Schritt überhaupt möglich ist, ist viel Vorarbeit nötig. Wenn die Patienten hier sind, stellen sie oft eine gewisse Entlastung fest. Sie spüren, dass sie in der Gruppe der Patienten angenommen werden. Sie können neue, positive Erfahrungen machen. Auch nonverbale Angebote wie Kreativ-, Bewegungs- oder Musiktherapie sind meist hilfreich. Für die meisten ist es eine große Erleichterung, festzustellen, dass sie Teil einer Gemeinschaft sein und davon profitieren können. Vor allem jüngere Patienten können dann oft wieder Schritte ins Leben machen und Weichen neu stellen.

Haben Sie in Ihrer praktischen Arbeit den Eindruck, dass Sie es zunehmend mit Patienten zu tun haben, die sich in auffälliger Weise zurückziehen?

Aus meiner Sicht schon. Es gibt höhere Belastungen durch familiäre Systeme, und auch innerhalb von Familien stellen wir Vereinzelungstendenzen fest, mit denen wir es vor einigen Jahren noch nicht so oft zu tun hatten. Oft geschieht das in Familien, in denen sich die Eltern trennen und die Kinder darunter massiv leiden.

Kommt nicht noch hinzu, dass Kinder heute nach dem Schulabschluss schneller in alle Winde zerstreut sind, ob durch ihren Arbeits- oder Studienplatz? Dann bleiben die Eltern alleine zurück.

Das gibt es auch. Diejenigen, die eigentlich sehr beziehungsfähig sind, können solche Brüche gut verkraften. Wer das nicht kann, droht sich zu isolieren.

Kann man das lernen?

Ja, man lernt es von frühester Kindheit an. Dazu gehört, sich selbst und andere gut wahrzunehmen, Impulse zu steuern und zu spiegeln, auf andere eingehen zu können. Wer als Kind kein Problem damit hat, soziale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, dem fällt es auch im Alter leichter. Auch dann kann es zu schwierigen Lebensphasen kommen, in denen sich die Menschen zurückziehen und darunter leiden. Aber diese Patienten brauchen meist nur ambulante Hilfe, um sich wieder besser zurechtzufinden.

Bedeutet das im Umkehrschluss: Einmal Außenseiter, immer Außenseiter?

Nein, so aussichtslos ist es nicht. Bei den Menschen, die nicht früh gelernt haben, ihren Gefühlen Raum zu geben, sie zu formulieren und sich mitzuteilen, ist aber ein hoher therapeutischer Aufwand nötig, um das nachzuholen. Oft berichten diese Patienten von sehr schwierigen Bedingungen in der Kindheit – wenig emotionale Nähe, wenig Konstanz, wenig Spiegelung. Es ist also unglaublich wichtig, Kindern Beziehungsfähigkeit mit ins Leben zu geben. Das ist ein wesentlicher Prophylaxe-Faktor.

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Und die Nachbarschaften funktionieren nicht mehr überall so, wie man es sich wünschen könnte.

Nachbarschaften können viel kompensieren und ein sehr stabilisierender Faktor sein. Eine gute Nachbarschaft ist in solchen Fällen Gold wert ebenso wie ein guter Verein.

Sind Sie der Meinung, dass digitale Kommunikation und soziale Netzwerke Einsamkeit verstärken?

Wer zu den Menschen gehört, die gesellig sind, dem werden Smartphones und soziale Netzwerke wenig anhaben können. Bei anderen können sie Rückzugstendenzen verstärken und dazu führen, dass sie sich sozusagen hinter ihren Geräten verstecken.

Zur Person

Zur Person

Peter Bagus ist seit 2009 Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost. Er ist Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Facharzt für Psychiatrie, Psychoanalyse und Rehabilitationswesen.

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