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Erste Bewährungsprobe für neuen Beirat Lehrstück über die Wirkungsmacht der Beiräte

Nur ein Jahr, nachdem der Beirat Mitte/Östliche Vorstadt an den Start gegangen war, gingen 1973 die hochfliegenden Pläne für die Mozarttrasse im Protest von Beirat und Bevölkerung unter.
31.01.2022, 05:00 Uhr
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Lehrstück über die Wirkungsmacht der Beiräte
Von Sigrid Schuer
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Ein Hauch von Revolution liegt während der Einwohnerversammlung in der Luft, zu der am 10. Juli 1973 in den überfüllten Chorprobensaal des Theaters am Goetheplatz der Beirat Mitte/Östliche Vorstadt geladen hat. Einziger Tagesordnungspunkt ist das Lieblingsprojekt des damaligen Bausenators Stefan Seifritz (SPD): die Mozarttrasse als wichtiges Teilstück der Planung des Tangentenvierecks rund um und durch Bremen hindurch. Während Seifritz noch sein Projekt zu verteidigen versucht, kippt die Stimmung im Saal bereits. Und dann stellt Hanna Ehmke aus der Köpgenstraße die entscheidende Frage, an der sich schließlich der geballte Widerstand entzündet: „Ja, brauchen wir die Trasse denn überhaupt?“

Eine Gemeinschaftsleistung

Diese Einwohnerversammlung habe zu den Höhepunkten eines Jahres gehört, dessen dynamische Entwicklung nicht zu überbieten gewesen sei, erinnert sich Herbert H. Wulfekuhl, erster Leiter des Ortsamtes Bremen Mitte/Östliche Vorstadt. „Wir standen mit dem Beirat und dem Arbeitskreis Ostertorsanierung da und fragten uns: Was nun? Schließlich konnten wir uns unmöglich gegen den erklärten Volkswillen wenden.“ Das gemeinschaftliche Kippen der Mozarttrasse ist als ein legendäres Lehrstück über die Wirkungsmacht der Beiräte in die Annalen der Stadt eingegangen. Denn um die ehrgeizige Tangentenplanung rund um die Stadt schließlich doch noch zu verhindern, kam es nicht zuletzt zum Schulterschluss zwischen den Beiräten Mitte/Östliche Vorstadt, Neustadt, Buntentor und Kattenturm. Darüber hinaus gab es Verbündete in Hastedt und Schwachhausen.

Wulfekuhl war erst knapp 23 Jahre alt

Das Naherholungsgebiet in der Neustadt sollte durch die Südtrasse zerschnitten werden. Der Beirat Mitte/Östliche Vorstadt wurde zum ersten Mal vor 50 Jahren einberufen und hatte gleich zu Beginn solch eine große Bewährungsprobe zu bestehen. Ob der damalige Innensenator Helmut Fröhlich (SPD) glaubte, mit der Berufung von Wulfekuhl leichtes Spiel zu haben? Denn der war bei seiner Einstellung gerade knapp 23 Jahre alt. „Das wäre heute wohl so nicht mehr denkbar“, resümiert der langjährige Leiter der Landeszentrale für politische Bildung.

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Schließlich wurde der Neuling ins Innenressort einbestellt, „um ihm einen dicken Aktenordner“ auszuhändigen, erinnert er sich. Inhalt: die brisanten Mozarttrassen-Pläne. Zwecks Zustimmung sollte er seinen Beirat auf Linie bringen. Die Beiratsmitglieder hielten sich zunächst bedeckt und sich vieles offen. Was die Baubehörde veranlasste, in Sachen Mozarttrasse immer aktiver zu werden und die Pläne zur Umsetzungsreife voranzutreiben.

Gestapelte Wohn- und Büroetagen

Am 1. März 1972 hatte Stadtplaner G.G. Dittrich seine Planungen für die sogenannte Osttangente im Ostertor- und Rembertiviertel öffentlich vorgestellt. Der Volksmund sollte später nur noch von der Mozarttrasse sprechen. Und wie diese Pläne aussehen sollten, skizzierte Professor Eberhard Syring, Wissenschaftlicher Leiter des Bremer Zentrums für Baukultur, im Nachhinein so: „Gleich hinter dem Theater am Goetheplatz sollten sie aufragen: Hochhausgebirge à la Tenever. Darunter, im Boden versenkt, eine vierspurige Hauptverkehrsstraße, die gleich hinter dem Rembertikreisel ab- und auf Höhe der Bleicherstraße wieder auftaucht, den Osterdeich kreuzungsfrei überbrückt, anschließend die Weser und den Stadtwerder, bevor sie am Deichschart in das Buntentorviertel eindringt. Der Straßentunnel wird von Tiefgaragen gerahmt. Und darüber dann gestapelte Wohn- und Büroetagen“.

Ziel: Einwohnerzahlen verdoppeln

Kurz gesagt: Bausenator Stefan Seifritz wollte Tatsachen schaffen. Ziel, so Syring, sei es gewesen, die Einwohnerzahl im Ostertor- und Rembertiviertel auf mehr als 20.000 Einwohner zu verdoppeln. Bereits 1946 waren sogenannte Veränderungssperren für das Ostertor- und das Remberti-Viertel vom Bremer Senat erlassen worden. Folge: Sollten Eigentümer von Bremer Häusern doch etwas verändern oder bauen wollen, hätten sie bei einem Abriss ihres Hauses keinerlei Entschädigung dafür bekommen.

Platt machen und Hochhäuser bauen

Die Abrissbirne hatte im Remberti-Viertel zur Schaffung des Rembertikreisels, der als Scharnier zwischen Nord- und Osttangente fungieren sollte, bereits ganze Arbeit geleistet, nun sollte es im Ostertor nahtlos weitergehen. Denn der Baulöwe, Gewerkschaftsboss und SPD-Grande Richard Boljahn, der zudem Aufsichtsratsvorsitzender der stadteigenen Gewoba war, hatte schon ganz konkrete Pläne für Schnoor und Ostertor-Viertel in der Schublade. Kurz gesagt: Einfach platt machen und die Innenstadt mit dem Bau von Hochhäusern verdichten.

Hartnäckigkeit der Jusos unterschätzt

„Dabei ist heute erwiesen, dass sich nirgendwo mehr Menschen pro Quadratkilometer unterbringen lassen als in der effizienten Karree-Bauweise des Bremer Viertels“, weiß Wulfekuhl. Innensenator Fröhlich hatte vielleicht auch die Expertise und letztendlich auch die Hartnäckigkeit des Jusos unterschätzt. Denn der kannte sich in Grundstücks- und Stadtplanungsfragen gut aus. Hatte er doch zuvor bereits als Regierungsinspektor beim Bundesvermögen Haus- und Liegenschaftsverwaltung wertvolle Erfahrungen gesammelt. „Das hat mir schon sehr geholfen“, blickt er zurück.

Ganz schön aufmüpfig seien die Jusos damals gewesen, unter ihnen auch der spätere Grünen-Gründer Olaf Dinné, erinnert sich Wulfekuhl. Der junge Architekt war damals gerade aus dem Schnoor ins Viertel gezogen und auch in den Beirat gewählt worden. Das Selbstverständnis der Jusos, so hat es Wulfekuhl einmal formuliert: antikapitalistisch, antihierarchisch und vor allem antikarrieristisch. „Unsere Sitzungen an jedem ersten Montag des Monats, die ja öffentlich waren, galten damals als legendär. Die Anwohner haben von ihrem Teilnahmerecht in den Beiratssitzungen rege gebraucht gemacht und wir haben so manchen Behördenvertreter abgeduscht.“

Bremen wird keine Millionenstadt

Abgeduscht - diesen Begriff habe einer der Redakteure des WESER-KURIER damals geprägt. Die Verwaltung habe damals keinen leichten Stand gehabt, erzählt der Ex-Ortsamtsleiter. Und: Auch in das Statistische Landesamt und in die Baubehörde sei nach und nach die junge Garde nachgerückt, zu der die Jusos gute Kontakte hatten. „Das heißt: Wir wussten schon frühzeitig, dass sich der Traum von der Millionenstadt Bremen nicht halten ließ“, sagt Wulfekuhl.

Ölpreisschock und Sonntagsfahrverbot

Und noch eines spielte der Trassen-Opposition in die Hände: der Ölpreisschock und das Sonntagsfahrverbot. Beides versetzte dem Prinzip der autogerechten Stadt einen gehörigen Dämpfer. Doch damit noch nicht genug. Der Club of Rome prognostizierte 1972 „Die Grenzen des Wachstums“. Heute wird dagegen mit Hinblick auf die Klimakrise zunehmend über die Stadt der 10-Minuten-Quartiere diskutiert.

Legendärer Showdown

Der Anfang vom Ende der Trassenplanung wurde durch den mit großer Mehrheit gefassten Beschluss des mächtigen SPD-Unterbezirks Bremen-Stadt im Herbst 1973 eingeläutet: „Es werden keine Trassen mehr durch Wohn- und Erholungsgebiete gebaut“, hieß es da. Damit war bereits das Terrain für den legendären Showdown und das endgültige Kippen der Trassenplanung Anfang Dezember bereitet. Noch am 4. Dezember stimmte die SPD-Bürgerschaftsfraktion mit hauchdünner Mehrheit und mit Hilfe von acht Bremerhavener Abgeordneten pro Trasse. Knapp 24 Stunden später dann der endgültige, radikale Sinneswandel: Mit großer Mehrheit bei elf Enthaltungen stimmte die SPD-Bürgerschaftsfraktion endgültig gegen die Trasse.

Zur Sache

„Mehr Demokratie wagen“

Dieses Credo hatte der damalige, sozialdemokratische Kanzler Willy Brandt ausgegeben. In Bremen führte das vor 50 Jahren ganz praktisch dazu, dass die beiratslose Zeit auch für die Stadtteile Mitte und Östliche Vorstadt vorbei war. Zuvor hatte es Beiräte schon in den ehemals selbstständigen Landgemeinden am Rand der City gegeben, 1971 wurden sie auch in den innenstadtnahen Quartieren eingeführt. 17 Mitglieder hatte der Beirat Mitte damals und 13 der Beirat Östliche Vorstadt.

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