Der Weihnachtsbaum steht bereits einige Tage vor dem Fest im Wohnzimmer. "Als Großfamilie muss man gut organisieren können", sagt Jenny Tietjen und trinkt in aller Ruhe auf dem Sofa einen Kaffee mit ihrem Mann Dennis. Dort geht es an Heiligabend bei drei Kindern vermutlich hoch her. Ihre beiden leiblichen Töchter und ihr Pflegesohn Leo* fiebern der Bescherung entgegen, die Eltern indes dem fröhlichen Miteinander. Sie schenken Leo nicht nur Lebens- und Familienzeit, sondern eine Kindheit in einem behüteten Zuhause.
Der heute achtjährige Junge, der als Baby zehn Monate in einer Einrichtung verbracht hat und mit elf Monaten in das Reihenhaus in Kattenesch eingezogen ist, gehört für alle vier Mitglieder der Kernfamilie einfach dazu. Dort erfährt Leo Zuwendung, Fürsorge und Liebe, ihm werden Werte vermittelt und Grenzen aufgezeigt. Das Pflegekind hat durch die Vermittlung der Gesellschaft Pflegekinder in Bremen (Pib) die Chance bekommen, in einer ganz normalen Familie aufzuwachsen.
Die Entscheidung, ein Kind in Vollzeitpflege aufzunehmen, hätten sie zu viert im Familienrat getroffen, erzählt Jenny Tietjen – und nicht bereut. "Bei grundsätzlichen Entscheidungen halten wir immer Familienrat, jede Stimme hat das gleiche Gewicht. Kinder haben auch ihre Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen."
Leo hat einen angeborenen Gendefekt. Zudem wurde bei ihm im Alter von fünf Jahren eine fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) diagnostiziert. Sie ist auf den Alkoholkonsum seiner leiblichen Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen und äußert sich unter anderem durch Konzentrationsstörungen oder darin, dass er bestimmte Lernschritte nicht so wie Gleichaltrige machen kann.
Als Tietjens Leo zu sich genommen haben, war seine FASD-Krankheit nicht bekannt. Trotzdem hätten sie sich immer wieder für ihn entschieden, versichern die Eheleute, die seit 13 Jahren verheiratet sind und glücklich und zufrieden wirken. Ihr Sohn sei für sie und ihre elf- und 16-jährigen Töchter "eine große Bereicherung", sagen sie.
Sie müsse sich etwas intensiver um Leo kümmern, "ihm helfen, einen schützenden Rahmen geben, weil er mehr als andere Kinder erlebt hat und vielleicht noch erleben wird", sagt die 42-jährige Pflegemutter. Durch Leo seien aber alle viel achtsamer geworden. "Unsere Mädchen sind unglaublich tolerant", ergänzt sie – und fügt nach kurzem Innehalten "geworden" hinzu. Sie hätten früh gelernt, Verständnis aufzubringen und Verantwortung zu übernehmen, erzählt ihre in sich ruhende Mutter. "Durch Absprachen erkennen sie, wie viele verschiedene Möglichkeiten es gibt, um ein Problem zu lösen, lernen zuhören und zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist."
"Unser Alltag läuft ganz normal", findet Jenny Tietjen. "Leo ist mein Sohn, ich frage nach der Schule, Freunden und begleite ihn zum Fußball." Nur zu offiziellen Terminen wie mit der Pib-Fachberaterin, der Case-Managerin beim Amt für soziale Dienste, dem Amtsvormund oder in gesundheitlichen und schulischen Angelegenheiten sei das Pflegekind Thema.
Das Ehepaar Tietjen hatte sich immer drei Kinder gewünscht. Nachdem der Gynäkologe nach zwei Risikoschwangerschaften eindringlich von einem dritten Versuch abgeraten hatte, wurden Tietjens durch ihr Umfeld auf den Gedanken der Vollzeitpflege für ein Kind gebracht. Sie kannten bereits einige Familien mit Pflegekindern. "Das war uns also nicht fremd", so Dennis Tietjen.
Nach dem Einverständnis der Töchter informierten Tietjens sich bei Pib und besuchten Grund- und Aufbaukurse zu Rechten, Pflichten und Hilfen für Familien. Als analytisch denkender Informatiker habe ihr Mann nach jedem einzelnen Schritt gesagt: "Wir schauen", sagt Jenny Tietjen. Einzige Prämisse: Das Pflegekind sollte jünger als die eigenen Kinder sein, idealerweise ein Mädchen.
Dann ging alles ganz schnell. Auf einen Telefonanruf mit nüchterner Faktenschilderung folgte der erste Besuch in der Pflegeeinrichtung. "Leo ist so ein Strahlemann", sagt Jenny Tietjen. "Er hat mich sofort in Bann gezogen, die Ärmchen ausgestreckt, er wollte Hilfe – und ich musste ihm helfen." Auch Dennis Tietjen und ihre beiden Töchter seien sofort verliebt gewesen in den Jungen. Nach einer Gewöhnungsphase in immer kürzeren Besuchsintervallen zog Leo in sein neues Zuhause ein. Es brauchte etwas Zeit, um sich kennenzulernen, gestehen die Eltern: "Aber Leo ist immer mehr unser Sohn geworden."
Jenny Tietjen ist überzeugt, dass viel mehr Familien ein Pflegekind aufnehmen könnten. "Sie müssten es nur wagen", ist sie überzeugt. Dank des Pib-Sicherheitsnetzes würden Pflegeeltern nie allein gelassen. "Man muss als Pflegeeltern vielleicht ein Quäntchen mehr Geduld und Gelassenheit haben", sagt sie. Es sei wichtig, das Pflegekind da abzuholen, wo es stehe. "Aber Leo eben auch ein Stück weit so lassen, wie er ist." Auch aus dem Grund wird das Thema "Bauchmama" mit Leo und seinen Schwestern nicht ausgespart, sondern altersgerecht besprochen: "Unser Grundsatz ist: Die Kinder werden nie angelogen."
* der richtige Name ist der Redaktion bekannt