Für 50 Kinder und Jugendliche war die Kinderwohngruppe (Kiwog) am Deich in den vergangenen 20 Jahren ein Zuhause auf Zeit. Für nicht wenige von ihnen wahrscheinlich ein schöneres, zumindest ein sichereres und behüteteres als ihr vorheriges. In dem roten Reihenhaus in Habenhausen hat SOS-Kinderdorf eine Wohngemeinschaft für Sechs- bis Zwölfjährige mit acht Einzelzimmern eingerichtet, die das Jugendamt zu ihrem Schutz aus ihren Familien herausgenommen, in Behördendeutsch in Obhut genommen hat.
„Wir leben hier ganz normal wie in einer großen Familie zusammen, wir sind ein offenes Haus“, sagt Marcus Bunnberg. Der Sozialpädagoge erlebt nach wie vor, dass Außenstehende oft eine falsche Vorstellung von einem Kinderheim hätten.
Beim Betreten der lichtdurchfluteten Wohnküche mit dem großen Esstisch als Mittelpunkt, einem Kuschelsofa, prall gefülltem Spiele-Regal und Blick in den mit Trampolin, Nestschaukel und Baumhaus ausgestatteten Garten wird schnell klar, dass man in einem kindgerechten, überschaubaren Zuhause zu Gast ist. Auffällig ist nur die riesige Tafel mit Fotos und bunten Aufgabenzetteln, der Wochenplan.
Verlässliche Strukturen
„Wir wollen die Kinder beteiligen, das ist der wichtigste Bereich im Haus“, sagt Brunnberg zu dem pädagogischen Konzept. Das betreffe die Pflichten – etwa kleine Aufgaben im Haushalt wie das Abräumen des Tischs – und ebenso die Rechte. „Freitags dürfen sich die Kinder aussuchen, was wir für sie kochen sollen“, betont Erzieher Lukas Beilharz.
Doch zuerst müssten die Grundlagen dafür geschaffen werden, das seien verlässliche Strukturen. Folglich gibt es, wie der 29-Jährige erklärt, einen klar geregelten Tagesablauf – mit gemeinsamen Mahlzeiten, freien Zeiten und Ritualen wie dem Kakaopausentreff um 15.30 Uhr, wo aktuelle Termine besprochen werden. „Dass es Regeln und Grenzen gibt, lernen erschreckend wenige Kids“, berichtet Brunnberg.
Aus Verlässlichkeit könne Vertrauen erwachsen. Das sei die Basis für die Beziehungsarbeit der Sozialarbeiter. Sie stellen durch Wechselschichten sicher, dass ihre Schützlinge rund um die Uhr Ansprechpartner im Haus haben. „Außerdem hat jeder Betreuer ein Bezugskind“, sagt Beilharz, „auch als festen Kontakt zu Eltern und zur Schule.“
Die Eins-zu-Eins-Betreuung hat in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen, weil sich die Aufenthaltsdauer der Kinder deutlich verlängert hat. „Die Problemlagen im Elternhaus sind ähnliche wie früher“, sagt Brunnberg, „aber sie haben in der Intensität zugenommen.“ Das Spektrum reiche von emotionaler Verwahrlosung bis hin zu Gewalt; einigen Kindern falle es sehr schwer, sich auf Beziehungen einzulassen.
Notgedrungen rücke man somit immer weiter von dem ursprünglichen Ziel ab, die Kinder möglichst bald wieder in ihre Ursprungsfamilie zurückzuführen, erklärt der Sozialpädagoge. Wegen des gestiegenen Bedarfs hat SOS-Kinderdorf vor drei Jahren eine zweite Kinderwohngruppe in Habenhausen eingerichtet. „Die Kinder können bei uns groß werden“, sagt Brunnberg. „Im Augenblick leben sechs Kinder und Jugendliche von neun bis 17 Jahren hier mit uns.“ Der 37-jährige Sozialpädagoge arbeitet seit acht Jahren in der „Kiwog am Deich“.
Eine Inobhutnahme sei für Eltern und Kinder schwer, sagt Brunnberg. „Wir sind kein Eltern-Ersatz, wir begleiten die Kinder eine Zeitlang.“ Das Team bemühe sich, sie bestmöglich einzubinden, ergänzt Beilharz. Er weist auf das Familiencafé oder elterliche Begleitung bei Arztbesuchen hin. Der Großteil der Eltern habe nach wie vor das Sorgerecht.
Für die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen finden sich überall im Haus weitere Beispiele, sei es die frisch bemalte Wand im Bewegungsraum oder das Palettensofa auf der Terrasse. „Das Insektenhotel haben die Kids auch selbst gebaut“, sagt Brunnberg beim Blick aus dem Fenster. „Es sind einige dabei, die gerne basteln und schrauben.“ Die Garagenwerkstatt könne nur bedingt genutzt werden. Sie sei nicht isoliert, und das alte Tor lasse sich nur schwer anheben. Für die Sanierung bittet SOS-Kinderdorf um Spenden, die Kinder würden dort gern Stände für das geplante Gartenfest zum 20-jährigen Bestehen der „Kiwog am Deich“ bauen. „Dazu wollen wir alle einladen, die hier gewohnt oder gearbeitet haben“, sagt Beilharz.
Der Sozialarbeiter und Erzieher ist federführend an einem pädagogischen Leuchtturmprojekt für SOS-Kinderdorf beteiligt: dem Kinder- und Jugendrat, der alle zwei Wochen tagt. „Die Kids können da ihre Themen ansprechen“, so Beilharz. Dazu gehörten etwa Anregungen für Ausflüge, aber auch Ärger über Betreuer. Beispiel dafür ist der von den Älteren ausgehandelte und für alle gültige Handyvertrag. Um das Mobiltelefon, das nachts tabu ist, häufiger nutzen zu dürfen, wurden altersspezifische Regeln erarbeitet. Als Gegenleistung übernimmt jeder eine zusätzliche Aufgabe. „Sollte eine Mitteilung aus der Schule ankommen, heißt das zwei Wochen ohne Handy“, nennt Beilharz eine Konsequenz für Fehlverhalten.
Inobhutnahme
Wenn ein Kind in seinem aktuellen Zuhause in Gefahr ist oder es in Verwahrlosung lebt, kann das Jugendamt es in Obhut nehmen, um das Kind zu schützen und eine Klärung des Konflikts oder der Krisensituation herbeizuführen. Voraussetzungen für eine Inobhutnahme sind, wenn das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen nach eigenem Ermessen oder der Einschätzung des Jugendamtes gefährdet ist. Nach Angaben des Statistischen Landesamts Bremen gab es 2019 853 Fälle von Inobhutnahmen, davon erfolgten 112 auf eigenen Wunsch. 383 Kinder und Jugendliche waren von einer dringenden Gefährdung bedroht. Außerdem waren 358 unbegleitet eingereiste Kinder und Jugendliche darunter. 534 der vorläufig in Schutz genommenen jungen Menschen hat das Jugendamt in einer geeigneten Einrichtung untergebracht, 178 bei einer geeigneten Person und 141 Kinder und Jugendliche in einer betreuten Wohnform.
Weitere Informationen
Wer das Projekt Garagenwerkstatt der „Kiwog am Deich“ unterstützen möchte, kann seine Spende auf das Konto von SOS-Kinderdorf Bremen, Sparkasse Bremen, IBAN DE73 2905 0101 0001 0451 60, Verwendungszweck Kinderwohngruppe, einzahlen.