Laut Statistischem Bundesamt wird es bis 2035 deutlich mehr Rentner in Deutschland geben. Die Zahl soll demnach von derzeit knapp 16 Millionen auf 20 Millionen steigen. Darunter dann über sechs Millionen Menschen über 80 Jahre – eine Herausforderung für die Sozial- und Gesundheitssysteme. In den drei Stadtteilen Hemelingen, Osterholz und Walle nimmt sich ein Pilotprojekt der Gesundheit der über 65-Jährigen gezielt an. Die ersten Angebote starten in der kommenden Woche.
Die "Werkstatt Alter" – so der Name – ist ein gemeinsames Projekt der Bremer Heimstiftung, der Volkshochschule Bremen, dem Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) sowie dem Leibniz Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (Bips). Mit der Werkstatt Alter sollen, so die Selbstbeschreibung, Menschen über 65 angesprochen werden, die bislang schwer zu erreichen waren.
Netzwerke unterstützen
Projektleiterin Sharlina Spiering von der Bremer Heimstiftung möchte dabei nicht bestehenden Initiativen und Trägern der Altenhilfe etwas überstülpen. „Alles soll nach Bedarf gehen. Es geht darum, mit den Menschen zusammen etwas zu entwickeln, etwas, was vielleicht ungewöhnlich ist." Die Werkstatt Alter sieht sich dabei in der Rolle des Unterstützers, der im Hintergrund Ideen entwickelt und verschiedene Angebote und Menschen miteinander vernetzt.
Klaus Krancke, Bremer Heimstiftung: „Wir wollen Lücken in den Angeboten in den Stadtteilen schließen. Die Werkstatt unterstützt und ist höchstens Mitveranstalter, deswegen werden wir auch keine Konkurrenz zu etablierten Anbietern sein." Als mögliche Kooperationspartner zählt Krancke Sportvereine, Gesundheitsanbieter, Kirchengemeinde sowie Begegnungsstätten auf. „Wir sprechen auch mit den Seniorenvertretungen, denn die wissen, wo es hakt in den Stadtteilen", so Krancke.
Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt und wird über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit 260.000 Euro von den gesetzlichen Krankenkassen gefördert. Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) haben mit dem GKV-Bündnis Gesundheit eine Initiative zur Gesundheitsförderung aufgelegt. 10.000 Euro steuert die Bremer Heimstiftung bei – ohne zeitliche Begrenzung, wie Krancke sagt. "Dann bleibt immer noch eine kleine Quelle, wenn die offizielle Förderung ausläuft und damit eine Verstetigungsperspektive."
Für Sharlina Spiering ging es seit dem Projektstart im Juni vor allem darum die Menschen und die Angebote in den drei Stadtteilen kennenzulernen. „Ich habe unheimlich viele nette Menschen kennengelernt, die Akteure in ihrem Stadtteil sind und mit den Themen Alter und Gesundheit zu tun haben." Lebendige Geschichte sei es, sich mit den Senioren vor Ort zu unterhalten.
Wer tanzt, rostet nicht
Auf ihren Streifzügen durch Osterholz hat sie auch Hubert Stehr kennengelernt. Der 81-jährige Rentner aus dem Ellener Feld ist wohl das, was man einen aktiven Senioren nennen mag. „Wir gehen jeden Sonntag zum Tanz nach Hüttenbusch", sagt Stehr, der unter anderem 30 Jahre als Fahrlehrer gearbeitet hat. Mit Sharlina Spiering hat er außerdem zuletzt auch ihm unbekannte Ecken Osterholz erkundet. „Das hat mich vom Sofa runtergeholt", sagt Stehr. Warum es so wichtig ist, aktiv zu sein? „Man muss am Ball bleiben, muss rauskommen, sonst verrostet man", ist er sich sicher. Das Tanzen ist dabei nicht etwa eine seit Jahrzehnten gepflegte Leidenschaft, sondern Stehr ist, nach einigen lang zurückliegenden Tanzschritten in der Schule, erst nach dem Tod seiner Frau im Rentenalter zum Tanzen gekommen. „Um Menschen kennenzulernen", sagt Stehr. Motiviert mitzumachen, hätten ihn Bekannte, die schon aktiv tanzten.
Für Spiering ist genau dies der Punkt, wo das Projekt ansetzen soll. „Wir wollen, dass die Menschen diese Dinge weitertragen." Sprich: Angebote sollen auch und vor allem durch Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt gemacht werden. Auch Hubert Stehr vermutet, dass es bei einigen seiner Altersgenossen genau an dieser Motivation mangelt. „Da fehlt häufig einer, der sagt: Nun komm doch mit!"
Ulrike Pala, Leiterin des Ortsamts West, freut sich über die zusätzliche Unterstützung in der Seniorenarbeit im Bremer Westen. „Wir haben 5.000 Menschen über 65. Viele davon sind fit und finden ihren eigenen Weg, aber andere brauchen auch Unterstützung und deswegen sind niedrigschwellige Angebote zu begrüßen." Das Reizvolle an dem Angebot sei nicht, neue Angebote zu machen, sondern die Lücken zu finden. „Durch Menschen, die vielleicht ganz andere Ideen haben."
Ähnliches verspricht sich auch Janine Precht, Dozentin für Gesundheit an der Volkshochschule. „Unsere Frage lautet: Gibt es Bedarfe, die wir noch gar nicht kennen?" Es gehe beim Thema Gesundheit außerdem nicht darum, anderen zu sagen, was ihnen guttut, sondern: „Jeder soll für sich selbst entscheiden, was ihm guttut." Es gehe aber auch darum, Hürden zu entdecken, die einem aktiveren Leben entgegenstehen. „Das können fehlende Kontakte, weite Wege, aber auch schlicht fehlende Toiletten sein", zählt Precht auf. Wenn es solche Hürden gebe, gingen die Leute auch nicht raus. „Und darum geht es erst einmal: Dass die Menschen herauskommen und soziale Kontakte erleben."
So wie Hubert Stehr. Der auch am nächsten Sonntag mit einer Gruppe Bekannter zum Tanzen fahren wird und sich vielleicht dabei wieder ein wenig so fühlt wie damals, als er als Schüler die ersten Tanzschritte lernte.