Herr Perplies, seit vier Monaten sind Sie Direktor der größten Schule Bremens. Wie arbeitet man sich in eine solche Stelle ein?
Ralf Perplies: Mit einer intensiven Einführungs- und Lernphase. Ich habe mich zunächst im Rahmen einer sehr gut besuchten Personalversammlung vorgestellt – online, versteht sich, denn für die VHS arbeiten 108 fest Angestellte und mehr als tausend Honorarkräfte. Anschließend habe ich viele Einzelgespräche geführt, die Regionalstellen besucht und in verschiedenen Abteilungen und Kursen hospitiert. Durch meine früheren Tätigkeiten waren mir viele meiner heutigen Kolleginnen und Kollegen mitunter schon seit Jahren bekannt. Und eigentlich dachte ich auch, dass ich die VHS als solche gut kenne.
Eigentlich?
Auch ich war überrascht und beeindruckt davon, wie viele Aufgaben die VHS übernimmt, die von außen kaum sichtbar sind. Nehmen wir den Bereich der Alphabetisierung: In Bremen gibt es mehr als 50.000 Menschen, die kaum literarisiert sind, und eine Armutsquote von fast 25 Prozent. Bildung ist der Schlüssel zu sozialer Gerechtigkeit. Mir ist kein Ort in Bremen bekannt, an dem so viel dafür getan wird wie an der Bremer Volkshochschule mit ihren insgesamt acht Standorten im Land Bremen. Erwachsenenkurse zum Lesen und Schreiben sind seit mehr als 40 Jahren fester Bestandteil des Veranstaltungsprogramms. Oder der Bereich der Integrationskurse und der beruflichen Sprachförderung für Migranten und Geflüchtete. Für sie ist die VHS erste Anlaufstelle und das Schaufenster der Stadt. Von unseren Dozentinnen und Dozenten, die aus fast 60 Ländern stammen und mehr als 53 Sprachen beherrschen, lernen sie viel mehr als die deutsche Sprache. Die VHS ist für diese Menschen ein jahrelanger Wegbegleiter. Dabei entsteht eine ganz besondere Verbundenheit.
Woran machen Sie das fest?
Ein Beispiel: Vor einiger Zeit führte ein junger Syrer einen der VHS-Integrationskurse ehrenamtlich durch die Demokratieausstellung, die bei uns zeitweise gastierte. Ich kam mit ihm ins Gespräch und fragte ihn, warum er das tut. Er sagte, es sei seine Art, Dankbarkeit zu zeigen nach allem, was die VHS für ihn getan habe. Es sind solche Begegnungen, die zeigen, welche Arbeit hier geleistet wird und mit welchem Engagement unsere Mitarbeitenden hinter ihrer Aufgabe stehen. Und unsere Erfahrungen zeigen, dass gerade in migrantischen Kreisen die VHS als Institution höchsten Respekt genießt.
Ist das nicht überall so?
Ich wünschte, das wäre es. Aber es gibt immer noch Menschen, die die Volkshochschule etwas despektierlich für die Bildungseinrichtung der „kleinen Leute“ halten, und noch immer hält sich das Vorurteil der Schule für „Kochen und Makramee“. Wer aber die Vielfalt und das Niveau unseres Angebots kennt, weiß: In unserem Kollegium sind Leute mit Qualifikationen und beruflichen Biografien – da schlackern sie mit den Ohren. Die Bremer VHS ist eine der größten Volkshochschulen in Deutschland mit mehr Unterrichtsstunden als zum Beispiel in Hamburg. Welch enormer Wissensspeicher hier gebündelt ist, das müssen wir in Zukunft sicher noch deutlicher nach Außen tragen.
Sie haben ihre Stelle in einer durchaus schwierigen Zeit angetreten. Wie hat sich die Pandemie auf die Arbeit in der VHS ausgewirkt?
Wir haben ein junges Team, das wahnsinnig schnell reagiert und großartiges geleis-
tet hat. Die technische Plattform für den Online-Unterricht gab es bereits, und so konnten viele Programmangebote fast nahtlos weiterlaufen. Anfangs gab es viel Skepsis – mittlerweile wissen viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr zu schätzen, wenn sie an ihrem Kurs teilnehmen können, ob-
wohl sie eigentlich auf Dienstreise sind oder der Babysitter abgesagt hat. Die allermeisten wünschen sich von uns aber, dass
wir bald alle Kurse in Präsenz abhalten und dass die Auslastung in den Räumen wieder auf den früheren Zustand hochgefahren werden kann. Der wirtschaftliche Druck steigt, denn die Pandemie war teuer. Unterm Strich haben sich die Anmeldezahlen halbiert, in den Jahren 2020 belief sich das Defizit auf 2,1 und im Jahr 2021 auf 1,2 Millionen Euro.
Hat diese Zeit das Programm auch inhaltlich geprägt?
Es ist uns klar geworden, dass der Bereich der digitalen Grundbildung deutlich ausgebaut werden muss. Die Digitalisierung der Alltagswelt hat sich beschleunigt - ein Beispiel ist die Tatsache, dass viele Bankfilialen aus den Stadtteilen verschwinden und Bankgeschäfte online getätigt werden sollen. Viele Menschen, darunter vor allem die ältere Generation, fühlen sich zunehmend abgehängt. Inhaltlich orientiert sich die Vhs ohnehin seit jeher dicht an den Themen, die die Menschen aktuell bewegen. Der thematische Schwerpunkt des aktuellen Programms ist die Geschlechtergleichheit. Nur durch faktenbasiertes Wissen kann man für sich selbst und für die Gesellschaft Veränderungen herbeiführen und aktiv werden.