Vegesack. Mit über sechzig Menschen zeigt sich die Stadtkirche am Montagabend verhältnismäßig gut gefüllt, insbesondere angesichts der nach wie vor existenten Corona-Problematik. Konzentriert und andächtig lauschen diese den Worten und Klängen aus Richtung des Altars. Ein Gottesdienst findet an diesem Abend jedoch nicht statt. Stattdessen handelte es sich um eine Benefiz-Lesung von mehr als einem Dutzend nordbremer Autoren, deren Erlös der Ukraine-Hilfe von „Ärzte ohne Grenzen“ zugute kommt.
Die Initiative hierzu stammt von der sowohl beruflich als auch privat in der Flüchtlingshilfe engagierten Autorin Ines Balczun alias Ines Allerheiligen, die auf ihre Idee einer Benefizlesung postwendend tatkräftige Unterstützung erhielt: Der befreundete Krimiautor Jochen Windheuser kontaktierte daraufhin umgehend das lokale Autorennetzwerk des hiesigen Literaturfestivals „Gastgeber Sprache“ und erhielt binnen kürzester Zeit zahlreiche Rückmeldungen.

Die Stadtkirche war gut gefüllt.
Martin Mader, dessen Buchhandlung Otto und Sohn zunächst als Veranstaltungsort angedacht war, sagte umgehend neben logistischer auch finanzielle Unterstützung zu, hatte er doch bereits selbst mit einer Spendensammlung begonnen: Bereits auf dem Hökermarkt begannen er und sein Team, etwa 50 Wannen voller „Leseexemplare“ gegen Spenden zugunsten der Leidtragenden des Ukrainekriegs abzugeben: „Normalerweise handelt es sich bei diesen um unverkäufliche Werbeexemplare, im Falle von Spendensammlungen ist deren Abgabe jedoch ausnahmsweise gestattet“, erklärt der Buchhändler.
So ließe sich beinahe von einer Renaissance des seit Beginn der Coronakrise etwas eingeschlafenen Literaturfestivals „Gastgeber Sprache“ sprechen – jedoch nur fast: Das zentrale Thema „Krieg“ sorgte sowohl bei den Vortragenden als auch den Zuhörenden für sichtliche Betroffenheit und eine entsprechende Veranstaltungsatmosphäre. Ohne Zwischenmoderationen oder artikulierte Zuhörerreaktionen wechselten sich die insgesamt 14 Vortragenden am Lesepult ab, um ihre jeweils etwa zehn- bis fünfzehnminütigen Texte verschiedener literarischer Gattungen vorzutragen. Für kurze musikalische Interludien sorgte der mit der Initiatorin befreundete syrische Instrumentalist Zagros Bari auf der Saz.

Mit der Saz sorgte Zagros Bari für kurze musikalische Interludien zwischen den Vorträgen. cp/ Foto: Pfeiff
Der aktuelle Krieg in der Ukraine stellte zwar den Anlass der Lesung dar; ein großer Teil der verlesenen Texte thematisierte hingegen mutmaßlich autobiographische Fluchterfahrungen des zweiten Weltkriegs, die aus verschiedenen Perspektiven neben Verzweiflung, Durchhaltewillen und bisweilen menschenunwürdigen Lebens- und Reisebedingungen auch ablehnende Teilbevölkerungshaltungen und Vorbehalte gegenüber Kriegsflüchtlingen thematisierten – und hierdurch deutliche Parallelen zum aktuellen Zeitgeschehen und den Schicksalen zahlreicher heutiger Kriegsflüchtlinge aufzeigten.
Sowohl die von Egbert Heiß verlesenen „Briefe aus den Bombennächten“ der eigenen Eltern als auch die verschriftlichten Kindheitsrinnerungen Ernst-Günther Webers an „Tante Hannis Geburtstag“ inmitten der Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone offenbarten eine ebenso eindringliche Authentizität wie Gerhard Koopmanns verlesenes Kapitel aus seinem Buch „Die fremde Heimat“.

Auch Gerhard Koopmann, Leiter der Schreibwerkstatt im Blumenthaer Doku, zählte zu den vortragenden Literaten. cp/ Foto: Pfeiff
Auch Anne Achners Kurzgeschichte über einen tschechischen Streckenwärter, dessen Hilfsbereitschaft gegenüber deutschen Kriegsopfern bei vielen Landsleuten auf Unverständnis stößt, sowie Eva Hütters Erzählung über dörfliche Skepsis gegenüber einem geflüchteten Ehepaar zeichnen sich durch nahezu greifbaren Realismus aus. Salim M. Ali beschrieb hingegen die selbst miterlebte Flucht indischer Dorfbewohner vor der chinesischen Armee infolge der vorgehenden Flucht des Dalai Lama. Ursula Pickener und Rega Kerner verarbeiten ihre Eindrücke des Krieges in bisweilen abstrakter Poesie.
So bedrückt, wie die Atmosphäre während der recht kurzfristig anberaumten Lesung in der Stadtkirche war, so erfolgreich deren karitative Intention: Da viele Zuhörer freiwillig einen höheren Eintritt zahlten, schätzen die Initiatoren die resultierende Spendensumme auf „mindestens fünhundert Euro, wahrscheinlich mehr“. Auch Maders Sonderverkauf brachte es auf eine Summe von mehr als tausend Euro, die von einer Seniorin unlängst um 500 Euro ergänzt wurden. „Wir selbst werden ebenfalls aufrunden“, versprach Mader im Namen seiner Mitarbeiter. In Summe dürfte somit ein Betrag jenseits der 2000 Euro gesammelt worden sein, der zeitnah dem Ukraine-Einsatz der „Ärzte ohne Grenzen“ zugute kommen wird.