Als Ernst Meißner nur wenige Tage nach dem Waffenstillstand am 8. Mai 1945 beim amerikanischen Militärkommissar beantragte, einen Mädchenchor zu gründen, erntete er ein energisches Nein. Er gab nicht auf, holte sich Hilfe vom Pastor, bekam grünes Licht für einen Chor unter dem Kirchenmantel. Dies war der Startschuss für den Vegesacker Jugendchor, der internationale Anerkennung erhielt. Und dies durch das Engagement seines Gründers, der trotz früher Kinderlähmung den Chor zum Erfolg dirigierte.
Vegesack. Anfang Mai 1945. Der Waffenstillstand war geschlossen. "Wir kommen als Befreier" ließ Dwight D. Eisenhower in öffentlich ausgehängten Schaukästen und auf Litfaßsäulen verkünden. Aber es folgten Auflagen, die das zivile Leben einschränkten. Jede Form von Waffen und Munition waren abzuliefern, dazu Benzin, Diesel und Schmierstoffe. Für Männer und Frauen galten unterschiedliche Ausgangszeiten. Nachts war Ausgangsverbot. Menschenansammlungen von mehr als drei Personen waren nicht erlaubt.
An jeder Haustür war ein Zettel anzubringen mit den persönlichen Daten der im Haus wohnenden Personen. Es gab keinen Schulunterricht, keine Zeitung, keinen Rundfunk. In dieser unsicheren Zeit etwas zu unternehmen, das erforderte Mut und Idealismus. Der junge Musiklehrer Ernst Meißner besaß beides. Meißner hatte an der Oberschule für Mädchen in Vegesack unterrichtet (später auch an beiden Oberschulen, dann am Gymnasium Vegesack).
Wenige Tage nach dem Waffenstillstand am 8. Mai 1945 beantragte er beim amerikanischen Militärkommissar, einen Mädchenchor zu gründen. Sein Antrag wurde energisch abgelehnt. Meißner beriet sich mit dem Vegesacker Pastor Heinrich Keller und bat um einen neuen Gesprächstermin. Diesmal beantragten beide die Gründung eines Kirchenchors. Die Idee wurde gelobt und genehmigt. Der Chor bestand zunächst nur aus Mädchen, die Meißner zuvor als Musiklehrer unterrichtet hatte.
Mit pädagogischem und musikalischem Geschick wusste der als Konzertsänger ausgebildete Pädagoge die Begeisterung der jungen Sängerinnen zu Höchstleistungen zu führen. Der "Jugendchor Vegesack" – wie er bald hieß – machte zunehmend Karriere. Obwohl Meißner infolge einer frühen Kinderlähmung nur den linken Arm zum Dirigieren nutzen konnte. 1946 erfolgte die erste Aufführung im Rundfunk. Diese Rundfunksendungen wurden schnell zur Tradition und erreichten im Lauf der Jahre mit etwa eintausend Funk- und Fernsehsendungen einen Rekord.
Zweiter Platz in Wales
Meißners erste Begegnung mit den Besatzungstruppen nahm eine ganz unerwartete Wendung. Ein uniformierter englischer Soldat kam in seine Wohnung im Barkhof und begrüßte ihn mit den Worten: "Tag Ernst – wollen wir zusammen Musik machen?" Es war ein befreundeter Kommilitone aus der Studienzeit. Meißner, der zusätzlich noch einen Abendchor leitete und zum Vegesacker Chor nun auch Jungen aus dem Gymnasium dazuholte, fuhr zu den Proben regelmäßig mit dem Fahrrad von Bremen nach Vegesack.
Die jährlichen Sommer-Freizeiten auf Spiekeroog sind bei den Chorsängern in lebhafter Erinnerung. Die Interpretation der "Six Chansons" von Paul Hindemith in der Bremer Glocke brachte die Anerkennung des Komponisten für die Vegesacker und ihren Dirigenten. Bei der Erstaufführung der Hindemith-Oper "Die Harmonie der Welt" 1957 dirigierte Hindemith selbst den Jugend- und den Abendchor. Bereits 1954 erfolgte die erste Auslandstournee nach Kopenhagen.
Bei einem Wettbewerb in Wales errang der Jugendchor unter rund hundert internationalen Teilnehmern den zweiten Platz. Ein Erfolg mit Folgen: Neben regionalen Konzerten traten die Vegesacker in Berlin, Bonn, in Frankreich, Jugoslawien und weiteren Balkanländern auf. Damals waren Auslandsbesuche deutscher Staatsbürger nicht selbstverständlich.
Eine neue Dimension erreichte der Einsatz des Meißner-Chors 1971. Eine Einladung des Leiters im Goethe-Institut Beirut eröffnete eine ausgedehnte Konzerttätigkeit im Orient. Der Jugendchor sang in Ägypten, Jordanien, Syrien, auf Zypern, in Griechenland und in der Türkei . Oft waren hohe Diplomaten und andere Würdenträger unter den Gästen. An einem Ostersonntag, dem höchsten Feiertag der griechisch- orthodoxen Kirche, gaben die Vegesacker in einem alten Kloster ein bewegendes Konzert, von dem noch heute gesprochen wird.
1983 erfolgte die letzte Auslandsreise unter Meißner nach Schweden. Nach 38 Jahren gab Ernst Meißner im 80. Lebensjahr den Chor an Gerd Linke ab. Heute wird der "Vegesacker Chor" in anderer Zusammensetzung von Karl Unrasch geleitet.