Gesine Lange, die Tochter von Bundespräsident Joachim Gauck, ist 1989 nach Bremen gezogen. Sie erzählt über ihre Erinnerungen an die DDR und was sie denkt, wenn sie ihren Vater neben Barack Obama im Fernsehen sieht.
Vegesack. "Papa, reiß dich doch mal zusammen", hat sie gedacht, als Joachim Gauck neben dem US-Präsidenten Obama stand und über den Fernsehbildschirm offensichtlich wurde, dass Tränen der Rührung in den Augen des Deutschen Bundespräsidenten standen. Die Gefühle und Gedanken dahinter, die kann Gesine Lange allerdings gut nachvollziehen.
Die Tochter des Bundespräsidenten erzählte auf Einladung von Pastor Volker Keller davon im Oberdeck der Stadtkirche Vegesack. Von den Repressalien, die die Pastorenfamilie in der DDR erlebte, vom vermeintlichen Abschied für immer, als sich die Gauck-Kinder in den Westen aufmachten, vom Gefühl der Unfassbarkeit, endlich frei dem selbst gewählten Weg und Glauben folgen zu können, vom Stolz auf den Vater, der seinen vier Kindern seine Grundsätze mit auf den Weg gab: "Habt den Mut, Nein zu sagen. Lasst euch nicht verbiegen. Steht für eure Überzeugung ein und geht erhobenen Kopfes durch die Welt."
Das Interesse der Gäste gilt an diesem Nachmittag allein der in Platjenwerbe wohnenden Tochter des Deutschen Bundespräsidenten. Alle wollen es wissen und zwar sofort: "Darf die Tochter des Bundespräsidenten alles in der Öffentlichkeit erzählen?" Gesine Lange lacht: "Zu mir ist niemand gekommen und hat mir etwas verboten." So offen wie ihr Gesichtsausdruck ist auch Gesine Lange. Als würde sie gerade von ihrem letzten Einkauf berichten, erzählt sie völlig unverblümt von bizarr anmutenden Geschichten aus ihrer Schulzeit in der DDR.
Von Lehrern, die die Erstklässler fragen, ob die Uhr im Fernsehen der Eltern Punkte oder Striche hat. "Dadurch unterschieden sich nämlich die Uhren im Ost- und Westfernsehen." Vom Direktor, der sie zwang, den Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharren" von ihrer Kleidung zu entfernen, "sonst wäre ich nicht zum Abitur zugelassen worden".
Von Gasmasken als Schutz gegen Atombombenangriffe aus dem bösen Westen, die die Schüler im Unterricht bastelten. Von Schießübungen in der Schule: "Das war in der neunten Klasse. Wir sollten den Sozialismus verteidigen, auch ich als Pazifistin. Der Lehrer musste auch gar nicht groß mit mir diskutieren. Er stand nur da und lächelte, wohl wissend, dass meine Mitschüler aus der Gruppe Druck auf mich ausüben. Hätte ich nämlich nicht geschossen, hätte meine ganze Gruppe ihre erschossenen Punkte verloren. Ich schoss – in die Luft. Das gab zwar nur 0 Punkte für mich, aber die Gruppe verlor ihre Punkte nicht."
Gesine Lange scheut sich nicht, aus ihrem Leben zu berichten. "Mein Vater war kaum zum Bundespräsidenten gewählt worden, da stand schon der erste Journalist zum Interview vor meiner Tür." Die Geschichten, sie sind ihr sehr präsent. "Ich habe Tagebuch geführt. Als mein Vater sein Buch geschrieben hat, sind viele meiner Erinnerungen mit eingeflossen", berichtet sie. Gleichzeitig gesteht sie: "Nicht alles, was damals in der DDR passierte, wollte ich auch wirklich wissen." Anpassung sei gefragt gewesen, "wenn auch nicht wirklich bis in die letzte Konsequenz – auch das hat uns unser Vater beigebracht."
Mit dem Mann nach Bremen
Ihr Rückzugspunkt sei die Kirche gewesen, sie wurde Kinderdiakonin. Als ihr dann ein junger Mann aus dem Westen über den Weg lief – im Rahmen der kirchlichen Partnerschaft Bremen/Rostock: "Da habe ich mich verliebt." Das junge Paar heiratete, nach ersten Überlegungen, ob der junge Bremer nach Rostock ziehen sollte, sei es der Vater gewesen, der zu Gesine sagte: "Kein Schritt zurück, immer nur nach vorn. Geh in den Westen."
Gesine Lange folgte dem Rat ihres Vaters und ihrem Mann nach Bremen. "Das war im Juni 1989. Hätten wir damals schon geahnt, was kurze Zeit später passiert, vielleicht hätte ich mit der Hochzeit gewartet. Im Nachhinein denke ich nämlich manchmal, diese Heirat habe ich als Schlüssel in meine Freiheit gesehen. Da meine beiden älteren Brüder schon vorher ausgereist waren, wollte ich meine Eltern nie allein im Osten lassen."
Sie schüttelt den Kopf, während die Erinnerungen wach werden. Die erste Ehe hielt zehn Jahre. Mittlerweile ist sie wieder verheiratet, hat vier Kinder, zwei aus erster, zwei aus zweiter Ehe. Der Kontakt zum Vater, er ist sehr eng. Seit sie ihn bewusst wahrnimmt, weiß sie: "Für meinen Vater ist sein Beruf seine Berufung." Auch wenn diese Haltung in der DDR so manche Zumutung für die Familie bedeutet habe.
Plötzlich lacht Gesine Lange: "So ganz frei ist mein Vater heute schon wieder nicht", gesteht sie. Ein Spaziergang mit dem Bundespräsidenten durch Vegesack – so ganz ohne Sicherheitspersonal – das sei gar nicht möglich. Und dennoch weiß sie eines ganz genau: "Als Bundespräsident ist er jetzt der richtige Mann, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort."