Es ist zehn vor drei und der Wartebereich des Vegesacker Geschichtenhauses ist bis auf den letzten Platz belegt. „Maximal 36 Karten können wir pro Vorstellung verkaufen, mehr Zuschauer passen leider nicht in unsere kleinen Räume“, erklärt André van Waegeningh, der Projektkoordinator des Geschichtenhauses. Alle Vorstellungen der Dickens-Weihnachtsgeschichte sind bereits ausverkauft, allerdings seien ein paar vereinzelte Karten wieder zurückgegeben worden, wodurch spontan Entschlossene mit viel Glück doch noch einen Platz im Publikum ergattern können.
Das Geschichtenhaus ist ein Projekt des Beschäftigungsträgers Bras, Arbeiten für Bremen, und soll Arbeitsuchende unterstützen und ihnen eine Beschäftigung geben. Für gewöhnlich spielen die Laienschauspieler Bootsbauer oder Walfänger. Doch in der Weihnachtszeit wird das Geschichtenhaus von den Geistern der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Weihnacht – sowie dem Weihnachtsmuffel Ebenezer Scrooge belebt. Bereits im vergangenen Jahr hat die Schauspielgruppe die Weihnachtsgeschichte, angelehnt an das Original von Charles Dickens, präsentiert.
Regisseurin Helle Rothe schlängelt sich durch die Wartenden hin zur Tür des Kontors von Ebenezer Scrooge. „Ich schaue mal, ob wir eintreten können“, sagt sie, öffnet die Tür einen Spalt und linst in das Büro: „Oh, da wird gearbeitet, kommen Sie ganz leise rein.“ Die Wartenden drängen zum Eingang, nach der Ticketkontrolle versucht jeder, einen Platz mit guter Sicht zu finden. Im Kontor ist es sehr eng, die Stuhlreihen stehen so nah beieinander, dass langbeinige Zuschauer ihre Beine einziehen müssen. Doch mit ein bisschen Stuhlgerücke findet letztlich jeder einen Platz. Das Stück kann beginnen.
Publikum zieht um
Während der eineinhalbstündigen Aufführung wird das Publikum Zeuge eines Weihnachtswunders: die Verwandlung des Ebenezer Scrooge. Vom „größten Geizhals in ganz London“, wie der Geist der gegenwärtigen Weihnacht ihn nennt, zu einem liebenswürdigen Wohltäter.
Scrooge taut bereits beim Besuch des Geistes der vergangenen Weihnacht auf. Doch als er um drei Uhr in der Nacht von einer Gestalt geweckt wird, die aussieht wie ein Tannenbaum mit leuchtendem, spitzen Hut, verfestigt sich in ihm der Wunsch, seinen Mitmenschen etwas Gutes zu tun. Die Gestalt ist der Geist der gegenwärtigen Weihnacht und zeigt Scrooge, wie die Familie seines Neffen Fred und die Familie seines Angestellten Cratchit den Weihnachtsabend begehen. Ebenezer Scrooge ist gerührt. Davon, dass beide Familien arm sind und trotzdem mit Freude das Fest der Liebe feiern. Und davon, dass beide Familien auch an ihn denken.
Dreimal zieht das Publikum während der Aufführung um. Das Ensemble nutzt die örtlichen Gegebenheiten des Geschichtenhauses für die Inszenierung und ist dadurch auch immer sehr nah an den Zuschauern. „Es bot sich an, die Aufführung durch das Haus ziehen zu lassen“, sagt Regisseurin Rothe, „wir konnten die Kulissen fast komplett übernehmen“. Seit Juni probt das Ensemble für die Aufführung. „Die Proben für das Stück sind insofern kompliziert, als dass wir natürlich die Zeiten nutzen müssen, zu denen keine Führungen sind. Deshalb haben wir auch schon so früh begonnen“, erklärt Rothe. Insgesamt 43 Laien wirken an dem Stück mit. „Wir haben eine Mehrfachbesetzung, dadurch ist auch jede Aufführung ein bisschen anders.“
Die Regisseurin bediente sich, in Ermangelung von Kinderschauspielern, einiger Tricks. So wird der junge Scrooge, den der Geist der vergangenen Weihnacht dem alten Geizhals präsentiert, als Schattenspiel inszeniert. Dem Publikum wird ein erleuchtetes Fenster präsentiert. Dahinter steht ein Scherenschnitt-Scrooge, der nickt, wenn er angesprochen wird. Auch Tim, der Sohn Cratchits, wird nicht von einem Menschen gespielt. Stattdessen trägt Cratchit eine kleine Jungenpuppe mit sich, die, wie auch Tim in der Geschichte, ein steifes Bein hat. Die Kinderstimme kommt vom Tonband.
Um sechs Uhr morgens schließlich wird Scrooge vom Geist der zukünftigen Weihnacht heimgesucht. Er ist ganz in schwarz gekleidet und vermag nicht zu sprechen. Der Geist führt ihm den Tod von Tiny Tim – und seinen eigenen – vor Augen. Die Menschen trauern um den kleinen jungen, aber niemand vermisst den geizigen Scrooge. Dieser ist geschockt von der Prophezeiung. So sehr, dass er direkt nach dem Aufstehen beginnt, ein guter Mensch zu werden.
Das Publikum klatscht und hört damit nicht auf, als die Schauspielgruppe die Bühne verlässt. So kommt das Ensemble erneut heraus und verbeugt sich. „Ich hoffe, sie sind alle in Weihnachtsstimmung gekommen“, verabschiedet die Regisseurin das Publikum in den Nachmittag. Knapp zehn Minuten später ist das Geschichtenhaus leise und leer. Ab Januar können Interessierte dort wieder das Vegesack von 1845 erleben.