Vegesack. Wer sich an seine eigene Schulzeit zurückerinnert, dem könnten neben Schulhofgesprächen, Klassenfahrten und der ersten Jugendliebe auch die geliebten oder weniger geliebten Unterrichtsfächer in den Sinn kommen. Die einen mochten Fächer wie Englisch, Spanisch und Französisch. Die anderen hielten sie eher für eintönig und langweilig. Dass Fremdsprachenunterricht allerdings nicht immer trockenes Grammatik-Pauken sein muss, beweist das Schulprojekt "Total wert" der Gerhard-Rohlfs-Oberschule in Vegesack. Dahinter verbirgt sich eine kulturelle Kooperation der Schule mit dem Chor "IntoNation" der Hochschule Bremen, dem Instituto Cervantes, der Kunsthalle Bremen und der Stadtbibliothek. Ein breit gefächertes Netz aus Partnern also, das den Kindern und Jugendlichen der Jahrgänge acht bis zehn mittels Poesie, Musik und Kunst die spanische Sprache und Kultur näherbringen will.
"Wir wollen nicht nur die sprachlichen Kompetenzen der Schüler fördern. Uns ist auch wichtig, dass wir ihnen demokratische Anhaltspunkte und interkulturelle Impulse für ihre Zukunft an die Hand geben", erklärt Spanisch-Lehrerin Maria Suarez, die "Total wert" mit begleitet. Das Kooperationsprojekt richtet sich nach vier der insgesamt 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030. Im Fokus stehen die Aspekte der Wohlstandsverteilung, der Umwelt, der Gleichstellung der Geschlechter und des Friedens. Diese Schwerpunkte sollen in einem ersten Schritt von den Schülern anhand ausgewählter poetischer Texte in spanischer Sprache erarbeitet werden. Als Schauplatz für das Interpretieren und Übersetzen dient die Bibliothek des Institutos Cervantes. Was zunächst wie normaler sprachunterrichtlicher Alltag klingt, ist in der Umsetzung jedoch kreativer und auch interdisziplinärer angelegt. "Es soll ein digitaler Comic entstehen. Außerdem arbeiten die Jugendlichen sehr selbstständig, erkunden die Bibliothek, führen eigene Recherchen durch", sagt Suarez. Dabei können sie ganz kreativ mit der Sprache umgehen und die Eigenkreationen in spanischer Sprache, in deutscher Sprache oder in einem Mix der beiden Sprachen gestalten.
"Das Projekt ist außerschulisch angelegt. Viele der Schüler haben während der Pandemie nur wenig Unterrichtszeit außerhalb der Schule verbracht", sagt Schulleiterin Kathrin Borges-Postulka. Durch "Total wert" könnten sie wieder inspirierende und interessante Orte erleben, die mit dem Spanisch-Unterricht eng verknüpft seien. "Die Welt erleben ohne in ein Flugzeug zu steigen", fügt sie hinzu. Jeden zweiten Freitag fahren die Jugendlichen von Vegesack aus in die Stadtmitte, um dort vier Stunden gemeinsam mit den Partnern an den geplanten Inhalten zu arbeiten. Das Projekt begann bereits Mitte September, soll aber noch bis kurz vor Weihnachten weitergeführt werden.
Selbstkonzept fördern, Eigenständigkeit stärken
Der nächste Schritt ist ähnlich kreativ wie die Comics, es wird nur musikalischer. Laut Schulleiterin Borges-Postulka sollen "die Comics dann in Form von Podcasts oder Songs vertont werden". Unterstützt werden sie dabei vom Chor "IntoNation" der Hochschule Bremen. "Wir verwandeln gemeinsam mit den Jugendlichen die transformierten Gedichte in Rhythmen, die unter dem Einfluss von Trap und Rap stehen. Dazu nutzen wir digitale Programme wie die App 'Garage Band'", berichtet Julio Fernandez, Chorleiter von "IntoNation". Er habe selbst jahrelang an der Gerhard-Rohlfs-Oberschule als Musiklehrer gearbeitet und freue sich deshalb umso mehr über die Zusammenarbeit. Präsentiert werden die Ergebnisse auch: In der Kunsthalle Bremen wählen die Schüler einzelne ausgestellte Werke von Édouard Manet und dem spanischen Künstler Francisco de Goya aus und stellen sie in eine Zusammenhang zu den eigenen, neu entstandenen Rhythmen. Außerdem werden die digitalen Eigenkreationen in der Bremer Stadtbibliothek in der Abteilung für Jugendliche vorgestellt. "Es ist auch noch eine Präsentation in unserer Schule geplant - für Eltern und Interessierte", berichtet Borges-Postulka. Das interkulturelle Kooperationsprojekt wird mit 9.000 Euro Summe aus dem Programm "Kultur macht stark!" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.
Und wie kommt es bei den Schülern selbst an? Die Resonanz sei sehr positiv gewesen. "Es haben sich fast alle Schüler aus den insgesamt drei Jahrgängen für 'Total wert' angemeldet", weiß die Schulleiterin. Nicht selbstverständlich für eine langfristige außerschulische Aktivität. "Ein großer Vorteil ist sicherlich der Freitagstermin. Zu Beginn des Wochenendes hat das Projekt einen ganz anderen gemeinschaftlichen Charakter", erzählt Maria Suarez. Durch die gemeinsame Anreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln übernehmen die Jugendlichen gegenseitige Verantwortung. "Vor allem die Älteren für die Jüngeren. Das stärkt das Selbstkonzept und die Eigenständigkeit", ergänzt die Spanisch-Lehrerin. Außerdem sei es für die Schüler spannend, regelmäßig aus Vegesack rauszukommen und unterschiedliche Einrichtungen wie die Hochschule, das Instituto, die Kunsthalle oder die Stadtbibliothek zu erkunden.
Der gesamte kreative Prozess wird per Video aufgezeichnet und auf den Webseiten der beteiligen Institutionen veröffentlicht, damit es als Inspiration für andere Sprachen dienen könne. Denn moderner Sprachunterricht solle kreativ, interkulturell gedacht werden und "Schwellenängste abbauen", wie Borges-Postulka zusammenfasst. Somit ist trockenes Lernen von Vokabeln und Grammatik zumindest bei "Total wert" Schnee von Gestern.