Mit einem Lotsen an Bord wäre das nicht passiert. Aber den hatte das Küstenmotorschiff „Santana“ nicht nutzen müssen, als es sich auf eine folgenreiche Fahrt mit dem Ziel Bremer Holzhafen begab. Das Schiff – knapp 62 Meter lang und zehn Meter breit – bot nicht die vorgeschriebenen Maße von 90 Metern Länge und 13 Metern Breite, die den Einsatz eines Lotsen zur Pflicht machen. Und so kam die „Santana“ in den frühen Morgenstunden des 14. September 1984 in Vegesack vom Kurs ab, blieb nicht auf der Weser, sondern schipperte geradewegs in die Lesum, wo der Frachter schon bald feststeckte.
Rolf Umbach kann sich noch gut an das verirrte Schiff erinnern. Er war damals Lotse auf der Weser und Fälle wie diese ließen die Wellen natürlich hochschlagen. Der 83-Jährige, der seit 2008 im Haus Seefahrt in Grohn als ehrenamtlicher Archivar arbeitet, war von 1977 bis 2005 zwischen Bremerhaven und Bremen im Einsatz. Er führte Schiffe sicher zu den dazwischen liegenden Liegeplätzen. „Das konnten Werften sein oder auch die Bremer Wollkämmerei“, die mit Gütern beliefert wurde, berichtet der Senior.
Als er anfing, war auf der Unterweser noch reichlich Schiffsverkehr – mit entsprechender Nachfrage nach Lotsen. 86 Lotsen seien damals auf diesem Abschnitt der Weser im Einsatz gewesen, erzählt Rolf Umbach. Inzwischen hat der Schiffsverkehr aber abgenommen. „Es fahren weniger lotsenannahmepflichtige Schiffe auf der Unterweser“, sagt Maik Baudeck, Erster Ältermann der Lotsenbrüderschaft Weser I. Erster Ältermann bedeutet: Er ist der gewählte Vorsitzende. 35 Lotsen sind für die Lotsenbrüderschaft I derzeit im Einsatz. Alle männlich. Sie bringen Schiffe sicher in die Häfen von Nordenham, Brake, Elsfleth und Bremen.
„Wenn der Lotse an Bord ist, übernimmt er die Führung des Schiffes, aber verantwortlich ist der Kapitän“, schildert Rolf Umbach die Aufgabe seines früheren Berufslebens. Die war damals wie heute mit viel Umsicht und großer Kenntnis über das Fahrtgebiet verbunden. „Wir Lotsen sind mit dessen Gegebenheiten vertraut.“ Was heute noch eine Spur wichtiger sein könnte als damals. „Die Schiffe sind größer geworden und ihr Anteil hat zugenommen“, berichtet Maik Baudeck. „Wir begleiten Schiffe nach Bremen, die bis zu 230 Meter lang sind.“ Sie nehmen auf der Weser mehr Platz ein als die Schiffe früherer Jahre und müssen sicher an Fischerbooten, Freizeitskippern und anderen Schiffen vorbeigelotst werden. Rolf Umbach erinnert sich an Schiffe ganz unterschiedlicher Größe, die er ans Ziel brachte: „Das konnte ein großes Schiff sein, ein kleines Boot, ein Segelboot oder auch eine Fähre. Man musste aufgrund der gemachten Erfahrung in der Lage sein, jedes Objekt durchs Revier zu bringen.“
Und Erfahrung hatte Rolf Umbach eine Menge sammeln müssen, bevor er überhaupt daran denken konnte, Lotse zu werden. „Der Lotse musste das Kapitänspatent haben.“ Er hatte das höchste, was bedeutete, dass er mit dem Patent sechs Jahre zur See gefahren sein musste. „Erst dann konnte man sich bei der Lotsenbrüderschaft in Bremen bewerben“, blickt Rolf Umbach zurück. Inklusive anspruchsvoller Prüfung. „Und wenn man Glück hatte, wurde man genommen.“ Er hatte dieses Glück.
Begonnen hatte der berufliche Weg für den 1940 geborenen Mann schon viel früher. 1956 als Schiffsjunge auf dem „Schulschiff Deutschland“, wo er nach vier Jahren das Patent zum Steuermann auf großer Fahrt erwarb. Es folgten zwei Jahre Fahrt als nautischer Schiffsoffizier, danach der Besuch der Seefahrtschule mit dem Abschluss Kapitänspatent. Und dann kamen noch die vorgeschriebenen sechs Jahre auf See. Dann stieg Rolf Umbach 1977 in den Lotsen-Beruf ein.
Heute ist die Ausbildung zum Kapitän in der weltweiten Seefahrt ebenfalls Voraussetzung für den Lotsenberuf. „Nach einer Netto-Fahrtzeit von zwei Jahren als Kapitän kann sich der interessierte Nautiker bei einer der zuständigen Aufsichtsbehörden für das See- beziehungsweise Hafenlotswesen bewerben“, schreibt die Lotsenbrüderschaft Weser I auf ihrer Homepage. Etwa zehn Jahre müsse man nach dem allgemeinen Schulabschluss rechnen, um Lotse zu werden.
Das in der Lesum festgefahrene Schiff war nach Tagesanbruch übrigens von zwei Schleppern wieder in die Weser gezogen worden und konnte seine Reise nach Bremen fortsetzen. Das robuste Schiff hatte keine Schäden erlitten. Wenn es damals schon das Radarsystem gegeben hätte, mit dem Schiffen auch von Land aus der Weg gewiesen werden kann, wäre die Irrfahrt vielleicht nicht passiert. „Aber das Radarsystem von der Hunte bis Bremen wurde erst 1987 eingerichtet“, erzählt Rolf Umbach. Der Frachter sei wohl, vermutet er, von der Öffentlichkeit unbemerkt wieder freigezogen worden. Keine Schaulustigen am Lesumrand. Und schon gar nicht mit gezückten Handys, um den Unfall zu filmen und postwendend online zu stellen. Das wäre heute auch anders.