Blumenthal. „Entschuldigung, ist hier das Nunatak? Hier soll gerade eine berühmte Autorin aus Bremen-Nord gastieren. Sind Sie das?“ Der Mann mit der Schirmmütze, der plötzlich in das Kulturzentrum an der Kapitän-Dallmann-Straße kommt, setzt sich kurzerhand vor den Augen der erstaunten Gäste neben Gabi Stein an den Lesetisch. „Und wer sind Sie, ein Journalist?", entgegnet die Meyenburgerin gefasst. „Nein, ich bin Leser.“ „Soso, Sie können also lesen – was lesen Sie denn so?“ Kurz hält die Irritation bei den Zuschauern im Nunatak an. Dann ist klar: Der kleine Dialog zu Beginn der Lesung im Rahmen des Festivals „Gastgeber Sprache“ ist fingiert und der vermeintliche Störenfried Teil der Inszenierung.
Rund 35 Veranstaltungen an 20 Orten fanden innerhalb des Literaturfestivals seit Ende Februar im Bremer Norden statt. Das Motto der vierten Auflage hieß „Ich lese für dich.“ Nachdem unter anderem Schloss Schönebeck, die Vegesacker Stadtbibliothek und das Vegesacker Geschichtenhaus Orte literarischer Begegnungen waren, konnte Johanna Boeme vom Nunatak jetzt die Gäste in den frisch umgestalteten Räumen des Kulturcafés empfangen.
Für den verhinderten Dietmar Horbach war kurzfristig Gerhard Koopmann eingesprungen. Der Blumenthaler ist seit gut zehn Jahren Hobbyautor und hat bereits ein Buch mit Kurzgeschichten namens „Begegnungen“ sowie ein Sachbuch über den Bunker Valentin publiziert. Die Flucht seiner Familie während des Zweiten Weltkriegs verarbeitete er in „Die fremde Heimat“. Auf die Idee des vermeintlich aufdringlichen Gastes kam der ehemalige Personalreferent durch eine frühere Lesung der Reihe „Gastgeber Sprache“. „Wir haben das vor zwei Jahren bei der Eröffnungsveranstaltung gemacht und ich dachte, das könnte man gut noch einmal wiederholen“, erzählt der 75-Jährige.
Gabi Stein eröffnet mit dem Gedicht „Wir alten Kartoffeln“ den literarischen Reigen. „Wir sind zwar etwas angeschrumpelt, die eine schläft, die andere humpelt“, beklagt das lyrische Ich das mangelnde Selbstwertgefühl vieler älterer Leute. Dann aber schwingt Zuversicht in den Versen mit: „Seht die weißen Keime hier, das ist die Zukunft, das sind wir! In der „Geschichte vom alten Wilhelm“ steht zu vermuten, dass der gedankenverlorene Protagonist an Demenz erkrankt ist und seine Frau nicht mehr erkennt. „Ihre Augen sind geschlossen, der Klang der Orgel der Orgel, schaurig und schön (..) Helgalein, ich habe Hunger! Heute erkennt er sie, heute ist ein guter Tag“, endet das Poem versöhnlich.
Eher melancholische Töne schlägt die Meyenburgerin in einem Gedicht über den Verlust einer vertrauten Person an: „Scharfsinnig hab ich festgestellt, dass Liebe nicht automatisch hält.“ Einen autobiografischen Hintergrund hat die Kurzgeschichte „Leichtsinn oder Vertrauen“. Eine sehbehinderte Frau will ihren Sohn besuchen, hat aber die Orientierung verloren und steigt bei einem fremden Mann ins Auto. Schließlich kommen ihr Zweifel, ob ihr Verhalten nicht etwas leichtsinnig gewesen ist. „Ich kann Sie beruhigen, ich bin eine gemütliche dicke Frau mit einer tiefen Stimme“, beschwichtigt die Fahrerin. „Das ist mir tatsächlich passiert, nur war ich die dicke Frau!“, ergänzt Gabi Stein lächelnd.
In ihrer Geschichte „Grenzgänger“ begegnen sich zwei schrullige Herren, Herr Bela und Herr Anton, Tag für Tag auf einer Brücke. Nach anfänglichem Fremdeln bauen die Exzentriker Vorurteile ab und freunden sich miteinander an. „Das ist ja wie bei Politikern“, findet Gerhard Koopman. „Die können nicht über ihren Schatten springen, aber du kannst das“, entgegnet Gabi Stein, die in der Literaturpforte im Dokumentationszentrum Blumenthal am Heidbleek und in der Schreibwerkstatt Bremen-Nord aktiv ist. Die Meyenburgerin bekennt, mit dem Schreiben erfolgreich gegen eine jahrelange Depression angekämpft zu haben: „Im Lauf der Zeit wurde alles fröhlicher“, ist ihr Resümee.
Eine von Gerhard Koopmann vorgelesene Geschichte entführt die Zuhörer auf die Bahrsplate. Ein verschroben scheinender Mann schreibt hier Gedichte. Als dem Ich-Erzähler eines davon besonders gefällt, schenkt der Mann ihm kurzerhand das lyrische Werk. Dass der ehemalige Mitarbeiter des Bremer Vulkan durchaus selbst dichten kann, beweist „Gute Wünsche“. „Gute Wünsche, ernst gemeint, können helfen, uns die Kraft zu geben, die in uns ist“, trägt Koopmann vor und erntet zustimmenden Applaus. Autobiografisch geprägt ist seine Nachkriegsgeschichte über ein Flüchtlingsmädchen, das in Hinnebeck bei einem Bauern wohnt und das vom Dorflehrer düpiert wird. Das Gedicht „Der Mensch“, von den Autoren gemeinsam vorgetragen, handelt von einem vermeintlich perfekten Menschen, der nach außen hin seine Umwelt blendet: „Doch nachts im stillen Eck lauert der Schreck.“
Zum Welttag des Buches am Dienstag, 23. April, um 17 Uhr wird die Auftaktveranstaltung von „Gastgeber Sprache mit 16 Autoren übrigens noch einmal wiederholt. Dieses Mal ist die Stadtbibliothek am Wall 201 der Austragungsort. Die Autoren tragen dann jeweils eine kurze Geschichte vor, die mit den Worten „Und sogar Glück bringen“ enden muss.