Vegesack. Ein wild zappelndes Coronavirus wird endlich zur Strecke gebracht. Die Langeweile bekommt erstmals ein Gesicht und am Schluss gibt sich auch noch ein falscher Frank Sinatra die Ehre. Die Bewohner der Seniorenresidenz „Vier Deichgrafen“ staunten nicht schlecht, als ihnen das Vegesacker Geschichtenhaus jetzt zweimal eine Exklusivvorführung vor der eigenen Haustür präsentierte. Auf dem Fußweg der Residenz am Alten Speicher hatten sich die Darstellerinnen und Darsteller zweimal jeweils so positioniert, dass die Bewohner des Heims einen direkten Blick auf das gleichermaßen turbulente wie ungewöhnliche Geschehen hatten.
„Das ist quasi unser Weg, uns bei unseren unmittelbaren Nachbarn mal zu bedanken. Wir schleppen das Stück schon seit Januar mit uns herum und haben es immer wieder verschoben“, erklärt Helle Rothe. Sie hat die künstlerische Leitung im Geschichtenhaus inne. Als im Januar nicht gespielt werden durfte, wurden erste Ideen gesammelt. „Wir haben überlegt, was macht das Coronavirus mit uns? Am liebsten würde man das Virus besiegen, haben wir gedacht – und auch die Langeweile kam vor.“
Die besagte gähnende Langeweile symbolisieren zunächst zwei Darstellerinnen durch eine synchrone Performance auf zwei Stühlen. Nachdem beide diverse Positionen vor, neben und hinter den Stühlen eingenommen haben, sagen sie sich: „Man könnte doch mal ein Buch lesen, Fotos einkleben, einen DVD-Abend machen.“ Sie zählen weitere ähnliche Aktivitäten auf.

Kreativ: Mit dem Detektor soll das Virus aufgespürt werden.
„Erst hatten wir eine Seite Text geschrieben, aber das wurde immer weniger. Wir waren erst stinksauer. Weniger reden und mehr spielen war dann das Motto – und wir haben das akzeptiert“, sagt Darstellerin Jessica Vollbrecht. Das Gedicht „Schmetterlinge“ wird von einer Schauspielerin vorgetragen, der Helle Rothe während des Rezitierens bunten Federschmuck hinter den Kopf hält. „Zerbrechlich deine Flügel, schenkst du mir soviel Erinnerung, zauberst du mir aus Kindertagen ein Lächeln auf mein Gesicht“, heißt es mit Blick auf die schwindende Zahl der farbenfrohen Insekten. Und weiter: „Zeig mir mal wieder dein leuchtendes Kleid.“
Dann aber ist es Zeit für die außergewöhnliche „theatralische“ Begegnung zwischen dem Coronavirus und der Impfspritze. Der kunterbunte, von der Kostümwerkstatt des Geschichtenhauses geschneiderte Ballonseidenanzug ist gespickt mit roten Puscheln. Plastisch personifiziert wird hierdurch das vorwitzige Coronavirus. In einer Stofftasche befindet sich die Viren symbolisierendes Popcorn, das keck auf ein paar Zuschauer und auf Radfahrer geworfen wird, die gerade den Weg kreuzen. „Es springt umher, fast feengleich. Du musst mich nicht immer beschmeißen, da gibt’s noch andere. Der fühlt sich richtig wohl, merkt ihr das, als hätte er schon jemanden infiziert“, kommentiert ein Sprecher das Geschehen.
Virus bricht zusammen
Dann nähert sich ein weiteres skurriles Wesen in einem weißen Schutzanzug mit schwarzen Streifen und der Aufschrift „10, 20, 30“. „Wir sind ja nicht dumm, wir Menschen, wir haben ja die Wissenschaft, wir haben ja den Impfstoff, der macht sich bereit für dieses Virus“, erfährt der Zuschauer. Eine mit Aluminium umwickelte Milchflasche symbolisiert eine Spritze, ein präparierter früherer Aschenbecher mit länglicher Halterung dient als Detektor, um das Virus aufzuspüren. „Du Virus du, du Impfstoff du, ich töte dich!“ Die Panik setzt bei dem Virus ein. Es läuft umher, verstreut noch ein paar seiner Abkömmlinge. „Jetzt fall mal endlich hin da“, kommentiert der Sprecher das humoreske Geschehen. Unter wilden Zuckungen und mit vernehmlichem Gestöhne bricht das Virus schließlich nach den Attacken der lebensgroßen Spritze zusammen. „Geh mal nachsehen, ob der auch wirklich tot ist. Geh mal näher heran da und tret mal ordentlich zu da“, ruft der Kommentator. „Da zuckt noch was!“, ruft eine Bewohnerin der Seniorenresidenz amüsiert herunter. Doch das Virus ist angenervt: „Ich bin doch schon lange tot!“ Schließlich wird noch kurz Frank Sinatras „My way“ angesungen und im Abgang heißt es: „Den Rest gibt’s dann irgendwann in Las Vegas.“
Nachdem die Akteure ihren verdienten Applaus bekommen haben, wird das Stück eine Stunde später nochmals ein paar Meter weiter gespielt, sodass alle Senioren einen Blick erhaschen können. „Das ist quasi ein Werkstück, das haben wir zusammen geschrieben und daran herumgeprobt“, erklärt Helle Rothe. „Das sieht alles so einfach aus, ist es aber nicht. Wie sagt man ein Gedicht auf, wie lässt man sich fallen, das muss alles geprobt werden“, erläutert sie. Regisseur Jonathan Prüsler empfindet als größte Herausforderung, auf immer neue Situationen zu reagieren und auf die Individualität der stetig wechselnden Darstellerriege einzugehen.