Vegesack. Stefan Jürgens zu kategorisieren fällt nicht leicht: Erwarb er sich zu Beginn seiner TV-Karriere in den Neunzigerjahren als Gründungsmitglied der Comedyshow „Samstag Nacht“ zunächst einen Ruf als Humor-Anarchist, tauchte er bereits zu dieser Zeit auch in seriösen Rollen in TV- und Kinoproduktionen wie unter anderem „Tatort“ auf – und verfolgte diese Karriere nach dem Ende der Sendung zielstrebig weiter.
Dass er bisweilen beißenden, manchmal sogar ätzenden Humor darüber nicht verlernt hat, beweist er in seinen Bühnenprogrammen, mit denen er in seinen Drehpausen auf Tournee ist – sofern es die Umstände erlauben: Zweimal mussten zahlreiche Termine der Tournee zu Jürgens aktuellem Album „Was zählt“ infolge der Corona-Pandemie nun bereits verschoben werden. Am Sonnabend konnte der Termin im Kito nun nachgeholt werden.
Der Publikumsraum war nur etwas mehr als halb gefüllt, als der vielseitige Künstler einen erneuten Beweis antrat, dass neben einem Comedian und Schauspieler auch ein Liedermacher und ein Songpoet in ihm schlummern. Wobei beiden im aktuellen Bühnenprogramm gleichberechtigt Raum gegeben wird: Setzt sich Jürgens an den hauseigenen Steinway-Flügel, avanciert er augenblicklich zum tonalen Lyriker und intoniert Songpoeme, die nicht selten von Liebe und zärtlichen Gefühlen handeln, jedoch auch Platz für gesellschaftskritische Beobachtungen haben. „Nach all den Jahren der Fütterung der Tiger, in denen wir hin und wieder gut und menschlich waren, weil es gerade Mode war, dass man Rücksicht nähme, gilt wieder: Auge um Auge, Zahn um Zahn“, vertonte Jürgens bereits wenige Monate vor dem weltweiten Ausbruch der Corona-Pandemie.
Emotionaler Songpoet und Comedian
Bei manchen Liedern wird Jürgens durch Saxofonist, Tonstudiobetreiber und Tourbegleiter Ralf Kiwit unterstützt. Ansonsten gehört die Bühne ihm allein. Bewegt er sich vom Flügel zu einem in der Bühnenmitte platzierten Stuhl, mutiert der eben noch emotionale Songpoet augenblicklich zu jener Art Comedian, der sein Publikum mitnichten zum ausgelassenen, sorglosen Schenkelklopfen animieren will, sondern der seine Zuhörer ebenso wort- wie meinungsstark mit beißendem Sarkasmus und ätzendem Zynismus an seiner Weltsicht teilhaben lässt.
Dass in dieser heutzutage kein Platz mehr für Reminiszenzen an den eigenen anarchischen TV-Ruhm der Neunzigerjahre ist, liegt nicht nur an der künstlerischen und persönlichen Weiterentwicklung des mittlerweile 58-jährigen Allroundkünstlers: „Für manches, was wir damals gemacht haben, würden wir heute wahrscheinlich an eine Wand gestellt und anschließend tot gespuckt werden“, vermutet Jürgens in einem Wortbeitrag, in dem er seine Gedanken zu aktuellen Diskriminierungs- und „Cancel Culture“-Debatten formuliert.
Diesen kann Jürgens nur bedingt etwas abgewinnen: „Wenn irgendwann alle endlich die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten, können wir uns ja vielleicht wieder auf das besinnen, was uns vereint, anstatt auf all das, was uns trennt – bis dahin wurschteln wir uns irgendwie weiter durch.“
Mitunter lässt der vielseitige Künstler sogar eine dezente „Früher war vieles besser“-Mentalität durchschimmern – wenn er etwa in einem Lied die „Kerle mit dem klaren Blick, mit Anstand und Benimm“ vermisst oder die Freuden seines modernen Landlebens beschreibt: „Da kommen die meisten Apokalypsen nicht so schnell hin – und wenn doch, bekommt man es wegen fehlender Netzabdeckung nicht mit.“ Zudem mache bei ihm nicht Alexa oder Siri das Licht aus, "sondern Heike – oder Petra, wer auch immer gerade da ist“.
Zwischendurch lernt das Publikum ein paar Begriffe aus dem Filmschauspieler-Jargon, beispielsweise, was eine „typische Mulk-Produktion“ ist: „Miete und laufende Kosten.“ Solchen vorzuziehen seien jederzeit Nuk-Produktionen: „Das steht für Nutten und Koks; diese Produktionen sind aber sehr selten.“
Trotz aller zynischen Bitterkeit, die mitunter auch so manches Lachen im Halse stecken bleiben lässt, plädiert Jürgens im Subtext immer wieder für zwischenmenschliche Werte – in seinen Liedern sowieso. Mit diesen präsentiert sich der Schauspieler einmal mehr als einfallsreicher Songschreiber, veritabler Pianist und immerhin passabler, wenn auch nicht unbedingt großartiger Sänger – doch wie sagt er selbst: „Es gibt immer jemanden, der irgendwas besser kann.“ Und obwohl sich das Leben laut einem Song des aktuellen Albums „oft so unvollendet“ anfühlt, ist es laut Jürgens nach wie vor „ein Trip, der sich lohnt“.