Als die Überseestadt gebaut wurde, hoben Archäologen einen aufregenden Schatz. Doch als noch wertvoller als die vielen kostbaren Keramiken, die Juwelen, Münzen und sonstigen Gegenstände erwies sich eine ungewöhnlich große Zahl unscheinbarer brauner Fetzen und Klümpchen. Laut Expertenmeinung handelt es sich dabei um den deutschlandweit größten Fund an Stoffen und Kleidungsstücken aus Zeiten der Renaissance – und damit um eine kleine Sensation. Die Bremer Landesarchäologen gehen davon aus, dass sie die komplette Werkstatt eines frühen Bremer Gewandschneiders entdeckt haben. Warum sie vor 400 Jahren entrümpelt, entsorgt und vergraben wurde: Man weiß es nicht. Doch es gibt eine Theorie.
Projektleiter Dieter Bischop hatte bereits ein wachsames Auge auf das Terrain, als im Jahr 2007 die Bagger anrückten. Man wusste schließlich, dass sich unter dem Bauplatz an der Weser auf Höhe der Fußgängerbrücke an der Adamspforte einst der historische Bremer Stadtgraben befand. Nachdem der Bremer Rat verfügt hatte, einen stärkeren Befestigungsring um die Stadt zu legen, verlor der mittelalterliche Graben seine Funktion und wurde zugeschüttet, erklärt Bischop. Als der Tiefbau die ersten Objekte zutage förderte, beschlossen die Landesarchäologen, den gesamten Untergrund zu sichern, abzutransportieren und den riesigen Erdberg gründlich zu durchforsten. Das täten sie vielleicht noch immer – hätten nicht Schulklassen und Studentengruppen mitgeholfen, so der Archäologe.
Einige Fundstücke waren bereits datiert
Ausgebuddelt, untersucht, in wissenschaftlichen Arbeiten vor- und teilweise seither bereits ausgestellt wurden Hunderte von Alltagsgegenständen – darunter Kochutensilien, Spielzeuge, Silber, Schmuck und Haarkämme, Tonpfeifen, Werkzeuge, Bucheinbände und Glasmalereien, Teile von Möbeln, Fenstern und Türen, die vermutlich aus den Haushalten wohlhabender Bremer Bürger stammten. Entdeckt wurden auch zahlreiche Scherben von bemalten Steinzeuggefäßen, Tellern und Kacheln aus den Jahren zwischen 1596 und 1622. Das kann man so genau sagen, weil viele der Stücke „freundlicherweise auch datiert waren“, so der Wissenschaftler. Militärische Gerätschaften wie Kettenhemden, Pulverhörner und Sporen zeugen von einer blutigen Ära. In Europa wütete der Dreißigjährige Krieg. Bremen rüstete auf.

Auch eine Socke und ein Handschuh wurden ausgegraben.
Das sauerstoffarme, gleichmäßig feuchte Milieu in drei Metern Tiefe sorgte nicht nur dafür, dass sich organische Materialien wie Holz und Leder hervorragend erhalten konnten, erklärt Restauratorin Tanja Töbe. Es konservierte auch Stoffe aus Wolle, Leinen und Seide. Insgesamt 7000 Textilstücke – von kleinen Schnipseln bis zu kompletten Kleidungsstücken und Bettwäsche – wurden aus dem großen Erdhaufen geborgen, vorsichtig gereinigt, dokumentiert und in einem speziellen Aufbewahrungssystem archiviert. Gefunden wurden sie nebst zahlreichen Utensilien aus dem Schneiderhandwerk wie Scheren, Fingerhüten, Näh- und Stecknadeln.
Was die Textilfunde so außergewöhnlich mache, sei die Tatsache, dass sie aus dem Alltag der damaligen Mittelschicht stammten, erklärt Bischop: „Über die Jahrhunderte erhalten haben sich sonst höchstens die kostbarsten Roben aus Adels- oder Königshäusern und Klerik. Bekleidung aus den unteren Schichten finden sich praktisch nie.“
Ein Accessoire, das viele amüsierte
Sie sind greifbare Zeugnisse dafür, wie sich Bremer Bürger in Zeiten der Renaissance kleideten. Das spektakulärste Fundstück ist die hornförmige Spitze eines „Tiphoiken“, wie ihn Bremerinnen vor 400 Jahren trugen: „Pottenhässlich“, findet der Archäologe, aber mit Geschmack ist das ja immer so eine Sache. Den dunklen capeförmigen Umhang mit Kapuze kannte man bislang nur von historischen bildlichen Darstellungen oder aus Beschreibungen früher Reisender, die sich über die steife „Schnabelhoike“ wunderten und amüsierten, erklärt Bischop. Er verweist auf das Zitat eines Zeitgenossen, der das merkwürdige Modeaccessoire mit einem Elefantenzahn verglich und erklärte, er habe „derowegen viel Mal darüber lachen müssen.“
Die Archäologen entdeckten auch noch einen weiteren extravaganten Modetrend der Renaissance: Ein Stück Stoff aus Seidentaft, das absichtlich durchlöchert worden war, um darunter den Blick auf ein noch wertvolleres Kleidungsstück möglicherweise aus Damast oder Brokat freizulegen. „Das Hackmuster war ein Luxustrend der Aristokratie, der in wohlhabenden bürgerlichen Kreisen nachgeahmt wurde“, erklärt Bischop. Das Stoffstück erzähle vom „Repräsentationsgehabe der Mittelschicht.“

Diverse Schneiderutensilien, darunter eine Schere und mehrere Fingerhüte, wurden ebenfalls entdeckt.
Der Fundus des unbekannten Gewandschneiders zeigt aber auch, wie sorg- und sparsam man mit den kostbaren Stoffen umging, die aus Leiden, Gent, Irland oder Schottland importiert worden waren, wie die geprägten Qualitätssiegel zeigen. Die „Wandschneider“ waren damals die reichste Zunft Bremens, so der Archäologe. Dennoch hatte der Meister aufwendig gewebte Bänder und Borten aus Damast oder Brokat von alten Stücken abgetrennt und für das nächste Projekt aufgespart.
Erste Anzeichen von Upcycling
Knopfleisten und Reste aus Seide und Samt wurden aufgehoben, mit denen Kleidungsstücke geflickt oder umgearbeitet wurden. „Upcycling würde man das heute nennen“, so Bischop. Selbst Schlappen, Kappen, einen gerne getragenen Handschuh und eine wollene Kindersocke hatte ihm seine Kundschaft zur Reparatur gebracht. Die Landesarchäologen haben eine Erklärung dafür, warum derart wertgeschätzte Dinge auf der historischen Müllkippe landeten. „Es gab in diesen Jahren mehrere Pestwellen in Bremen“, erklärt Bischop. „Wir vermuten, dass man die Einrichtungen betroffener Häuser komplett loswerden wollte.“
Mit einer Förderung der VGH-Stiftung konnten die Bremer Landesarchäologen ein Forschungsprojekt der Textilrestauratorin Katja Wagner in Kooperation mit dem Deutschen Textilmuseum in Krefeld finanzieren, das bereits viele wichtige Erkenntnisse über die Gewebe und deren Herkunft lieferte, erklärt Bischop. „Doch es lohnt sich, weiterzuforschen zu den Materialien, Schnittmustern, Techniken und Handelsbeziehungen.“ Er ist sich sicher: Der Bremer Schatz bietet noch sehr viel Stoff für wissenschaftliche Forschungen zur Kultur-, Sozial- und Alltagsgeschichte der Stadt vor 400 Jahren.