Planquadrat für Planquadrat ist die Überseestadt gewachsen. Kaum noch ein größeres Stück Land, das nicht bebaut, asphaltiert, gepflastert oder kultiviert worden wäre. Doch es gibt ein Randgebiet, auf dem sich die Natur in den vergangenen 25 Jahren fast ungestört ausbreiten konnte und wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen. Die Brache entlang der Barkhausenkaje blieb von Menschenhand fast unberührt, ist aber keineswegs vergessen. Die Nachbarschaft hat bereits seit Jahren ein sehr genaues Auge darauf. Doch jetzt wird es ernst. Die Wirtschaftsförderung Bremen will das Beteiligungsverfahren zur Entwicklung des Areals eröffnen.
Auf historischem Grund: Die alte Spundwand verrät das historische Fundament: 1998 wurde der Überseehafen mit Millionen von Kubikmetern Sand und Geröll verfüllt. Parallel zur Herzogin-Cecilie-Allee zwischen Überseepark und Waller Sand liegt ein 16 Hektar großes Gelände, das seitdem sich selbst überlassen wurde. Hier ist zu sehen, was passiert, wenn man die Natur einfach mal machen lässt.

Eine Pfad durchs Dickicht.
Ein paar Schritte von der Straße herunter und das Leben summt, brummt, schwirrt und zirpt. Auf dem Sandboden wachsen Mauerpfeffer und Seifenkraut, Schafgarbe und Hornklee, die es sonnig und trocken mögen. Auf dem blühenden Johanniskraut hat sich ein Bläuling niedergelassen: Ein äußerst seltener Gast in der Stadt. Sanddornsträucher haben sich breit gemacht und tragen orangefarbene Beeren. Ihre Samen wurden wohl vom Winde verweht, vielleicht als zufällige Mitbringsel von Vögeln, Schiffen oder Schwertransportern.
Auf Entdeckungstour: Areal ist für Rike Fischer ein zu nüchterner Begriff. „Ein Paradies“, sagt sie. Das ist nicht aufgeräumt, alles wächst wie es will. Der Boden: sandig, steinig, mager. Perfekte Lebensbedingungen für eine besondere Pflanzengesellschaft. „Hier hat sich eine unfassbare Artenvielfalt entwickelt“, so die Naturschützerin.

Der Natternkopf zieht immer auch Insekten an.
Besonders wertvoll: Der Streifen unter der Böschung, parallel zur Spundwand, in dem sich das Regenwasser sammelt. Hier sei ein rechter Dschungel gewachsen. Auf Bitten von „Jetzt hier!“, dem Quartiersentwicklungs-Büro des Vereins Kultur vor Ort in der Überseestadt, hatte sie kürzlich zu einer „Floralen Entdeckungstour“ eingeladen und rund 30 naturinteressierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die kleine Wildnis geführt, in der es viel zu sehen gibt: Den Rainkohl, zum Beispiel, eine uralte Wild- und Heilpflanze, reich an Vitaminen und Mineralien, deren gelbe Blüten derzeit leuchten.
Zartgelb blüht auch das Fingerkraut – hier ein besonders hochgewachsenes Prachtexemplar. Der Natternkopf steht voller tiefblauer Blüten, die Bienen, Schmetterlinge und andere Insekten magisch anziehen. Für pinke Farbtupfer sorgen Reiherschnabel, Weidenröschen und Lichtnelke.

Rike Fischer hat eine wilde Rauke entdeckt.
Fischers persönlicher Liebling: Die nickende Distel mit ihren dicken, purpurfarbenen Blüten. Sie wird wegen ihres moschusartigen Dufts auch Balsamdistel genannt, und war „Blume des Jahres“ 2008. Jahrtausende lang war sie eine typische Bewohnerin der „dörflichen Unkrautflora“, für die es mittlerweile immer weniger Lebensraum gebe, erklärte seinerzeit die Jury. Ganz unscheinbar dagegen der Hasenklee mit seinen puscheligen Blüten. Doch jedes einzelne Pflänzchen hat seinen Platz und seinen Nutzen für die Natur.
Florale Kulinarik: Manche Pflanzen schmecken sogar. Die Knospen des Spitzwegerichs überraschen mit einem intensiven Pilzaroma. Junge Birkenblätter: „Köstlich im Salat“, weiß Rike Fischer. Die Blätter der wilden Rauke haben unter dem Namen „Rucola“ längst ihre kulinarische Wiederauferstehung erlebt. „Man muss ihn nicht teuer in Plastikverpackungen kaufen, sondern kann ihn einfach im eigenen Garten anbauen“, sagt sie.
Aus der Weidenrinde lasse sich nicht nur Tee kochen – sie könne auch als effektives Bewurzelungsmittel eingesetzt werden, erklärt Fischer. Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Waller Grafikdesignerin mit Wildpflanzen, ihren Eigenschaften und ihrer traditionellen Nutzung. „Dieses Wissen ist in Vergessenheit geraten“, sagt sie. „Auch ich lerne hier jedes Mal etwas dazu.“
Mit ihrer floralen Erkundungstour wolle sie aber keineswegs dazu motivieren, vor Ort zu sammeln oder gar zu verkosten, betont Fischer. „Manche Pflanzen sind hochgiftig, und mitunter ist die Verwechslungsgefahr groß.“ Sie selbst hat jederzeit ihre Bestimmungsbücher mit dabei, doch im Zweifelsfall seien selbst die Literatur und die Pflanzen-Apps nicht immer eindeutig. Auch wundervolle Wildblumensträuße ließen sich hier zusammenstellen. Doch wem die Natur lieb ist: Besser darauf verzichten und der Vielfalt der Formen und Farben freie Entfaltung lassen.
Im Paradies wächst ein Apfelbaum: Vom Paradies haben unterschiedliche Menschen sicher unterschiedliche Bilder im Kopf. Doch ein Apfelbaum wie im biblischen Paradies wächst auch in diesem unordentlichen Naturgarten. Ob irgendjemand einen Ableger aus dem eigenen Garten gepflanzt hat oder sich die Pflanze von selbst aus einem weggeworfenen Kerngehäuse entwickelt hat, wer weiß? Ein gut festgetretener Trampelpfad, der am Buswendeplatz beginnt, ist jedenfalls der Beweis, dass die Wildnis viel und gerne betreten wird – auch zum Gassi gehen, wie vereinzelte Hinterlassenschaften beweisen.

Das Weidenröschen.
Eine Störung dürfte wohl auch der Grund dafür sein, dass ein Bau am Wegesrand unvollendet verlassen wurde. „Nachbarn haben hier aber schon eine Füchsin mit Jungen gesehen“, weiß Fischer. Auch ausgewachsene Feldhasen sind in der Überseestadt zu Hause.
Die Zukunft: Laut Bebauungsplan ist die Fläche für Bahnanlagen, Gewerbe und Straßenbau vorgesehen. Ginge es nach ihr, würde die Stadt diese Pracht, diesen Charme ganz in Ruhe lassen, sagt die Wallerin. Bereits 2020 hatten Nachbarinnen und Nachbarn eine Petition in die Bürgerschaft eingebracht, in der sie sich für den Erhalt des naturbelassenen Areals an der Barkhausenkaje einsetzen. Aufgrund des rasanten Rückgangs der Grün- und Freiflächen in dem Stadtteil gingen immer mehr Erholungsmöglichkeiten verloren, so das Argument.
Der Handlungsbedarf werde „erkannt und als prioritär bewertet“, lautete die Antwort aus dem Wirtschaftsressort. Der Öffentlichkeit und insbesondere den betroffenen Nachbarschaften solle daher die Möglichkeit gegeben werden, sich mit ihren Belangen in den Prozess einzubringen. Das steht nun unmittelbar bevor: Nach Angaben der Wirtschaftsförderung Bremen wird das öffentliche Beteiligungsverfahren, bei dem es auch um die Entwicklung des ehemaligen Kühlhauses zur Energiezentrale geht, Ende September starten. Termin und Ort für das Auftakttreffen werden in Kürze bekannt gegeben.