Bremen. Ein Zugunfall hat gestern den gesamten Hauptbahnhof lahmgelegt. Ausnahmezustand an einem Verkehrsknotenpunkt. Betroffen waren Tausende von Menschen.
Sie wollen in die Karibik, eine Kreuzfahrt von Barbados aus. Mit dem Zug nach Düsseldorf, ins Flugzeug und ab. Doch die Reise hat kaum begonnen, da ist sie schon wieder zu Ende, vorerst jedenfalls. Verena Kunert und Inge Schult stehen in der Bahnhofshalle, um sie herum die ganzen Koffer und Taschen, und schauen etwas ratlos drein. Was tun? Der Hauptbahnhof ist lahmgelegt, kein Zug mehr, der von dort losfährt.
Die beiden Bremerinnen, das auch noch, sind in besonderer Mission unterwegs. Die Tochter der einen wird den Neffen der anderen heiraten, auf dem Schiff, so ist es geplant. Sie sind also zu viert, vier Menschen, die auf dem Weg in die Karibik im Bremer Bahnhof gestrandet sind und nun überlegen müssen, wie sie nach Düsseldorf kommen. Mit dem Auto? "Schauen Sie doch mal, das viele Gepäck, das passt in kein Auto hinein", sagen die beiden Frauen. Dann lachen sie, Galgenhumor.

Mit Ersatzbussen versucht die Bahn, die vielen Menschen zu befördern.
Die Stimmung im Bahnhof schwankt zwischen Unglaube, Wut und Fatalismus. "Die ganze Bandbreite", sagt ein Mitarbeiter der Bahn, der normalerweise im Innendienst sitzt und jetzt in der Halle aushilft. Die Beamten sind umlagert von Menschen, die erst einmal wissen wollen, was überhaupt passiert ist.
"Ein Zug entgleist? Oh Gott. Waren da Menschen drin?", fragt ein Fahrgast, er heißt Martin Martens und will mit dem Zug nach Bremen-Nord. Beruhigt wendet der 38-Jährige sich ab, als er erfährt, dass es ein Güterzug war und niemand verletzt ist. Martens will auf den Schreck erst einmal etwas essen gehen. "Danach rufe ich meine Frau an, die holt mich ab."

Einer der Strommasten hat sich um einen Waggon des Unglückzugs gewickelt.
Auf der Anzeigetafel in der Bahnhofshalle werden zwei Stunden nach dem Zugunfall noch einzelne Verbindungen angezeigt. So als ob es irgendeine Chance gäbe. Gibt es aber nicht. Die Leute von der Bahn wissen das längst, rücken aber nur vereinzelt mit der Wahrheit heraus. Während der eine noch von ein bis zwei Stunden spricht, munkeln andere von ein paar Tagen, bis im Bahnhof wieder Normalbetrieb herrscht. "In Oldenburg ist vor Kurzem etwas Ähnliches passiert, da hat es zwei Tage gedauert", sagt ein Beamter.
Das ganze Ausmaß für diesen einen Nachmittag wird deutlich, als die Bahn auf ihrer Anzeigetafel kurz und knapp wird: "Zur Zeit kein Zugbetrieb möglich!". Und das ist so ungewöhnlich, ja eigentlich einmalig, dass immer wieder Menschen vor der Tafel Halt machen, ihr Handy zücken und ein Foto schießen.
"Eine riesengroße Herausforderung"
Bremens Hauptbahnhof – Verkehrsknotenpunkt für unzählige Personen- und Güterzüge, für Menschen, die zwischen ihrem Zuhause und der Arbeit pendeln oder verreisen wollen, für Ware, die in den Läden und Betrieben erwartet wird – dieser Bahnhof steht vollkommen still.

Patrick May will weiter nach Göttingen.
"Das ist eine riesengroße Herausforderung für Bremen", sagt Holger Jureczko, Sprecher der Bundespolizei. Er steht draußen an den Gleisen, auf der Ostseite des Bahnhofs, wo am Mittag der Unfall passiert ist. Die Ursache, sagt Jureczko, ist noch vollkommen unklar. "Der Zug ist entgleist und auseinandergerissen, wahrscheinlich an einer Weiche." 20 Waggons sind es im Ganzen und die Lok davor. Herkunft: Cuxhaven. Ziel, mit dem Umweg über Kirchweyhe: Bremen. Etwa 250 Meter vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof ist die Fahrt vorbei: "Das hat richtig geknallt", weiß Jureczko.
Ein Zug, unbeladen, der aus den Schienen springt. Dem Lokführer passiert nichts, und auch sonst ist niemand verletzt. Glimpflich wäre das richtige Wort dafür, hätte es bei dem Unfall nicht noch einen ganz anderen Schaden gegeben. "Über eine Länge von mehreren Hundert Metern sind die Oberleitungen regelrecht rausgerissen worden", sagt der Mann von der Bundespolizei. Einer der Masten liegt quer auf dem Dach eines Waggons, wie ein Mikado-Stäbchen, das sich selbstständig gemacht hat.

Raus in Oberneuland: Karin Naujoks.
Das Problem ist zunächst mal der Strom. 15000 Volt, die sicher abgeleitet werden müssen. "Selbst nach Abschalten des Stroms, bleibt noch eine Restspannung von 5000 Volt", sagt Jureczko. Das gesamte Gleisgelände darf deswegen vorerst nicht betreten werden. Selbst der Bundespolizist muss sich fernhalten. "Das dauert noch, bis wir mit den Aufräumarbeiten beginnen können", schätzt Jureczko. Wohl erst am nächsten Morgen, und dann werde es mehrere Tage dauern, um die Masten und die Oberleitungen zu erneuern.
Karin Naujoks weiß von all dem nichts. Es interessiert sie auch nicht, sie kommt aus Sylt und will zu ihrem Sohn nach Nienburg. "In Oberneuland mussten wir raus aus dem Zug, und von da ab sind wir von der Bahn allein gelassen worden", beklagt sich die 75-Jährige. Ein freundlicher Mann habe sie mit dem Auto zum Hauptbahnhof gebracht. Und nun, in diesem Moment, kommt der Sohn und holt sie ab.
Ein anderer, Patrick May, ist aus Manchester mit dem Flugzeug gekommen. "Ich hatte keine Ahnung, dass es am Bahnhof nicht weitergeht." Eine kurze Info am Schalter, dann eilt May nach draußen, zum Bus. Er fährt nach Verden, von dort funktionieren die Züge ja wieder. Von Manchester über Bremen nach Göttingen, an diesem Tag ist das ein sehr langer Weg.