Als die Luftwaffenhelferin Luise Otten am 21. Juli 1944 zur Arbeit fuhr, begann für sie am Neuenlander Feld ein ganz normaler Arbeitstag. Knapp eine Stunde später hatte sich ihr Leben radikal verändert. Ein Bündel von Briefen, die sie damals in den Jahren 1944/45 schrieb, sprechen noch heute in ihrer Unmittelbarkeit und spontanen Nähe zum Geschehen eine eindringliche Sprache. Sie sind ein mahnendes Zeugnis dafür, wozu die Nazi-Diktatur fähig war.
Marßel. "Ich leitete damals die Küche auf dem Militärflughafen. Wir hatten für 80 Personen zu kochen", erzählte bei einem Gespräch vor mehreren Jahren die alte Dame und kramte in einem Bündel von eng beschriebenen Zetteln. Die konspirativen Briefe belegen bis in die Gegenwart ein tragisches Schicksal. "Einen Tag nach dem missglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli kam es in der Küche zwischen den Mitarbeiterinnen zu Gesprächen. Ich sagte beim Gemüseputzen: Schade, dass der Anschlag nicht gelungen ist - dann hätten wir wenigstens Frieden. Wäre ich Offizier, ich wäre dabei gewesen."
Das nur so Dahingesagte wurde zu ihrem Schicksal. Ihre Äußerungen wurden dem Kompaniechef, Hauptmann Köster, gemeldet. Der befahl der Küchenchefin, ins Dienstzimmer zu kommen. Wenig später wurde sie in Handschellen gelegt und ins Bremer Frauengefängnis transportiert. Vier Tage später, am 25. Juli 1944, trat in einer Baracke auf dem Neuenlander Feld ein Feldkriegsgericht zusammen. Die Leitung hatte ein Kriegsgerichtsrat, ein Volljurist.
"Die Verhandlung dauerte knapp eine halbe Stunde ", erinnert sich die damalige Angeklagte. Das Urteil, das in der Abschrift vorliegt, lautete: "Im Namen des deutschen Volkes! Die Angeklagte wird wegen Zersetzung der Wehrkraft zum Tode verurteilt." Dann folgt eine seitenlange Urteilsbegründung, unterzeichnet vom Leitenden Richter Kriegsgerichtsrat Dr. Strutz.
Das Feldgericht begründete sein Urteil: "Wer, wie die Angeklagte, sich zu den Verbrechern bekennt, die dem Führer nach dem Leben getrachtet haben, muss ausgemerzt werden. Für ein solches Verbrechen gibt es nur die Todesstrafe. Demgemäß hat das Feldkriegsgericht gegen die Angeklagte erkannt. Es erschien dem Feldgericht als selbstverständlich, der Angeklagten die bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit abzuerkennen."
Luise Otten saß bis zum Oktober 1944 im Bremer Gerichtshaus Am Domshof. Täglich, wenn sich der Schlüssel drehte, rechnete sie mit ihrer Hinrichtung.Was sie nicht wissen konnte: Ihre Schwester reiste während dieser Zeit dreimal nach Berlin, um eine Begnadigung zu erreichen. Mit Erfolg. Mit Datum vom 25. September 1944 bestätigte Reichsmarschall Hermann Göring als oberster Chef der Luftwaffe zwar das Gerichtsurteil, befand dann aber: "Im Gnadenwege wandle ich die Todesstrafe in eine Zuchthausstrafe von 10 Jahren um."
Erst im Oktober erfuhr die in Bremen Inhaftierte von dieser Begnadigung. Sie wurde ins Frauenzuchthaus Lübeck-Lauerhof überstellt. Bis zum 24. September 1954 um 18 Uhr sollte ihre Haft dauern - so stand es auf einem Zettel an ihrer Spindtür. Durch die Mithilfe der Wärterin Monika, einem "Hilfskreuzer" wie sie im Knastjargon genannt wurde, gelang es Luise Otten mit ihren Eltern in Farge brieflichen Kontakt zu halten. Die unzensierten Briefe, auf verschiedenen Zetteln beidseitig eng beschrieben, sind erschütternde Zeugnisse ihres Leidensweges.
"Meine Handschellen, die ich genau fünf Wochen trug, bin ich ja los. Getragen hab ich sie nur drei Nächte. In der anderen Zeit konnte ich sie Dank Mitleid der Aufseherin und Schmierseife stets abstreifen. Meine Gedanken jagen wie wild in meinem Kopf herum. Ist es recht, dass man dazu angehalten wird, später anders und besser zu leben? Ich bin nicht eure Kameradin! Ich habe nichts zu büßen! Alles in mir ist Auflehnung gegen diesen Zwang. Wollte Gott, dass ich die Freiheit gesund wiedersehe!"
In einem späteren Brief schreibt sie: "Mit meinen Träumen ist das so eine Sache, liebe Mutti, die laufen immer nach Hause. Ich bin fast jede Nacht im Traum zu Hause. Gestern bin ich richtig mit Mutter unterm Berg hergekommen und unten stand der alte Bleeke an der Tür. Dann wurde ich wach darüber, dass ich zu Hause in Mutters Armen ganz furchtbar weinte." Mit großer Dankbarkeit erwähnt die Inhaftierte immer wieder die Aufseherin Monika, die unter der Gefahr, selbst verhaftet zu werden, Briefe und Päckchen an die Gefangenen an ihre Privatadresse schicken ließ und sie dann unter großer Vorsicht ins Zuchthaus schmuggelte.
Die mit beispielloser Tapferkeit und sarkastischem Humor niedergeschriebenen Protokolle ihres Haftalltags lassen die grausame Realität gelegentlich in den Hintergrund treten. Dagegen steht ihre scharfe Beobachtungsgabe und der unbeugsame Wille als Zeitzeugin die tägliche Unmenschlichkeit zu dokumentieren.
"Am 19. August 44 kam Frau von Seydlitz zu uns. Beim Rundgang konnten wir miteinander sprechen." Im Gespräch erzählte die alte Dame, dass die Frau von Seydlitz fast jede Nacht zum Verhör abgeholt wurde. Ihr Mann, General Seydlitz, vor Stalingrad Adjutant von Generalfeldmarschall Paulus, war aus dem Kessel ausgeflogen, um Hitler zum Aufgeben zu bewegen, bevor die Russen die Armee mit 360000 Mann ganz eingekesselt hätten. Hitler lehnte natürlich ab. Die Gestapo wollte von Frau von Seydlitz wissen, ob ihr Mann irgendetwas Verdächtiges gesagt hätte.
Neben der ungeschönten Grausamkeit des Alltags blitzt auch hin und wieder der Sarkasmus der Schreiberin auf. "Unsere Wohnung beträgt sieben Quadratmeter, belegt mit drei Frauen. Da wir nur ein Bett haben, schlafen zwei auf dem Boden auf Matratzen. Den Kaffee, den wir abends kriegen, trinken wir nie ganz aus, damit wir nachts nicht raus müssen. An dem Rest wärmen wir uns die Füße."
Und weiter: "Vorgestern war der Generalstaatsanwalt mit einem Arzt im Haus. Da wurden ihm ungefähr 20 bis 30 Frauen mit entblößtem Oberkörper vorgeführt. Wir sahen diese Menschen, als sie aus dem Arztzimmer kamen. Stellt euch Bilder vor, wo die Schlafkrankheit herrscht, so elend. Ich konnte die Körper nicht ansehen und bin fortgegangen. Das Essen soll aber noch schlechter und weniger werden."
Jedes Mal stirbt man mehrere Tode
Häufig gab es, wie überall in Deutschland, Fliegeralarm. "Furchtbar sind solche Angriffe für uns hier. Eingeschlossen in der Zelle und gut verriegelt, lässt man alles über sich ergehen. Ein grausames Schicksal, gefangen zu sein. Meine Strafe habe ich schon mehrere Male verbüßt. Angst vor dem Tod müsste man hier verlernen. Aber jedes Mal kommt sie uns neu und jedes Mal stirbt man mehrere Tode, wer diese Angriffe, dieses Rauschen von Bomben in unmittelbarer Nähe so schutzlos erlebt."
Nach solchen Angriffen gab es für die ganze Stadt wegen zerbombter Versorgungsleitungen Engpässe. So reichte der Druck in den Gasleitungen nicht aus, um Kaffeewasser zum Kochen zu bringen. Die erfindungsreiche Haftinsassin erinnerte sich: "Annelie holte das Bügeleisen, ich hab es umgedreht, auf zwei Dosen gestellt und nun singt das Wasser im Kaffeetopf." Ein anderer Brief berichtet von einem Topfkuchen von der Mutter in Farge, den die Wärterin mit viel Gefahr in die Zelle bringen konnte. Dabei waren auch Zigaretten. "Gestern haben wir sogar wieder eine Zigarette geraucht. Die schmeckte prima. In der ersten Haftzeit in Bremen hab ich Tag und Nacht von solchen geträumt."
Aber es gibt dann auch einen besonders tragischen Fall, der sich, wie die Gefangene berichtet, kurz vor der Befreiung zutrug: "Nun ist kurz bevor ich kam ein Mädel ausgerückt. Sie hatte nebenbei beim Oberinspektor zu arbeiten. Von da aus hat sie das Weite gesucht und allerhand mitgenommen. Sie ist zum Tode verurteilt worden und heute Morgen hingerichtet worden. Im Ganzen war sie nur drei Tage frei".
Weiter erinnert sich Luise Otten: "Eine Anordnung des Oberinspektors besagt, dass, wenn Not ist (Einrücken der alliierten Truppen, Anm.d.Red), man mit den Langjährigen noch auf die Reise gehen will. Zu Fuß in Richtung Mecklenburg". Aber dazu kam es dann doch nicht mehr: Das Lübecker Zuchthaus wurde Ende April 45 von den alliierten Truppen eingenommen. Luise Otten kehrte im Mai 1945 nach der Kapitulation in die ersehnte Freiheit zurück.
In unserem damaligen Gespräch empfand sie es als ungerecht, dass zum Tode verurteilte Frauen von der Gesellschaft weniger wahrgenommen werden als Männer. Sie wohnte bei unserem letzten Gespräch in einer kleinen gemütlichen Wohnung im Marßeler Feld.
NS-Militärrichter verhängten wegen verschiedner Delikte etwa 30000 Todesurteile von denen rund 20000 vollstreckt wurden.