Nach mehr als zwei Jahren kommt Rechtsanwalt Michael Nacken zum Ende dieses Jahres auf knapp 70 Gerichtsverfahren, die er für seine Mandantin Nicole Meyer gegen die Senioren Wohnpark Weser GmbH geführt hat. Das Unternehmen aus Weyhe gehört zum französische Orpea-Konzern und betreibt unter dem Namen Residenz-Gruppe in ganz Nordwestdeutschland 40 Pflegeheime, unter anderem an sechs Standorten in Bremen mit insgesamt über 400 Pflegeplätzen. Meyer vertritt als Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats rund 2500 Mitarbeiter.
Mehrfach hat ihr Arbeitgeber gerichtlich versucht, ihre Kündigung durchzusetzen, bislang ohne Erfolg. Begleitet wurden dieser Kündigungsprozesse mit zahlreichen zusätzlichen Klagen wegen angeblichen Fehlverhaltens und Falschaussagen. Auch die Zusammensetzung des Betriebsrates wurde mehrfach angefochten. Es gab Hausverbote und Gehaltskürzungen für Meyer. Jeden einzelnen Vorwurf ihres Arbeitgebers musste Meyer gerichtlich abwehren – so kam es zur Vielzahl der Verfahren.
Sie sollten nach Einschätzung von Nacken seine Mandantin einfach nur mürbe machen. Irgendwann verklagten sie und Nacken den Arbeitgeber deswegen schließlich wegen systematischen Mobbings und bekamen im April 2022 in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht Bremen recht. Die im Urteil zugesprochenen 15.000 Euro Schmerzensgeld gehören zu der höchsten jemals in Deutschland wegen Mobbings verhängten Summe eines Arbeitsgerichts.
Die prompte Gegenklage des Arbeitgebers auf Schadensersatz von 150.000 Euro wurde dagegen abgewiesen. Der Pflegeheimbetreiber hat Äußerungen seiner Betriebsrätin und ihres Anwalts während vorhergehender Prozesse dafür verantwortlich gemacht, dass Angehörige inzwischen davon absehen würden, Bewohner in den Einrichtungen unterzubringen, sodass dem Unternehmen zahllose Einnahmen entgangen seien.
Das Landesarbeitsgericht Bremen hat im November 2022 die Entscheidung der Vorinstanz bestätigt und der Residenz-Gruppe und ihrem Geschäftsführer bescheinigt, die Betriebsratschefin „durch unberechtigte Vorwürfe beziehungsweise Verdächtigungen ins Blaue hinein unter Druck zu setzen“, wie es wörtlich im Urteil heißt. Das geht nach Feststellung des Gerichts so weit, dass der Arbeitgeber mehrere entgegenstehende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen einfach ignoriere. Ziel sei einfach, der Betriebsrätin mittels rechtsfehlerhafter arbeitsrechtlicher Konsequenzen in ihrer Existenz zu bedrohen und psychisch unter Druck zu setzen. So steht es jetzt in letzter Instanz im Urteil.
Angefangen hat das alles 2020 mit einem eher häufigen und eigentlich auch eher kleineren Konflikt zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber: Es ging um die Frage, ob die Arbeitnehmervertretung an der Entscheidung über eine neue Software beteiligt werden muss. Die Residenzgruppe meinte nein, das sei durch eine vorhandene Betriebsvereinbarung abgedeckt, der Betriebsrat pochte dagegen auf Verhandlungen über eine neue Vereinbarung, weil die neue Software grundsätzlich geeignet sei, die Arbeitnehmer zu überwachen.
Die hauseigenen Mittel der Betriebsräte sind begrenzt, wenn Arbeitgeber zustimmungspflichtige Fragen gar nicht erst verhandeln wollen, weil sie sie eben nicht für zustimmungspflichtig halten. Dann bliebt nur der Gang zum Arbeitsgericht, um eine Einigungsstelle zu beantragen, eine Art innerbetriebliche Schlichtung, meistens mit einem Arbeitsrichter an der Spitze. Unter Meyers Vorsitz setzte der Gesamtbetriebsrat diesen Vorgang wegen der Software aufs Gleis – und damit begann der Großkonflikt.
Kerstin Bringmann von der Gewerkschaft Verdi sah schon gleich zu Beginn eine Zermürbungstaktik, um die Betriebsräte loszuwerden. „Es geht dem Arbeitgeber offenbar darum, ein Zeichen zu setzen, um alle, die sich engagieren und für ihre Interessen eintreten, zum Schweigen zu bringen“, kommentierte sie Anfang 2021 die Verfahren. Aus Gewerkschaftssicht berührte der Vorgang die Grundsatzfrage der Mitbestimmung, sodass zahlreiche Solidaritätsbekundungen für die betroffenen Betriebsräte organisiert wurden, unter anderem von der IG Metall und der SPD-Fraktion in der Bürgerschaft. Auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) hatte kommentiert, er sei entsetzt über das Vorgehen des Arbeitgebers.
Nach gut zwei Jahren und den knapp 70 Prozessen ist Nicole Meyer allerdings nicht nur immer noch Betriebsrätin der Senioren Wohnpark Weser GmbH, sondern inzwischen auch Vorsitzende im europäischen Betriebsrat von Orpea. Ihr Anwalt erwartet daher auch künftig noch Gerichtsverfahren. „Mutmaßlich wird das Unternehmen weiterhin versuchen, ihr irgendeine Verfehlung nachzuweisen.“ Es sei denn, Orpea entschließe sich endlich zu einer neuen Grundsatzhaltung gegenüber der Arbeitnehmervertretung. Das sei wegen diverser Pflege-Skandale des Konzerns in Frankreich mit spürbaren wirtschaftlichen Verlusten ebenfalls denkbar, hofft Nacken.