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Seit 2016 auf Bremens Straßen zu Hause Wie ein Bremer Obdachloser sich zurück ins „normale Leben“ kämpft

Ende 2015 will Tobias Sievers sich umbringen. Der Versuch misslingt, seitdem ist er obdachlos. Er ist fest entschlossen, ins „normale Leben“ zurückzukehren. Warum das so schwierig ist, hat er uns erzählt.
09.12.2019, 05:00 Uhr
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Wie ein Bremer Obdachloser sich zurück ins „normale Leben“ kämpft
Von Marc Hagedorn

Es dauert nur ein paar Minuten, dann spürt Tobias Sievers die Blicke. Er ist eine Viertelstunde zu früh am Treffpunkt. Also wartet er draußen vor dem verabredeten Café. Sehr bald, so erzählt er später, sieht er, wie die Verkäuferin in einem Laden den Hals reckt, um sehen zu können, wer sich dort vor ihrem Geschäft seit ein paar Minuten aufhält. Sievers registriert auch die musternden Blicke der Passanten, die an ihm vorbeigehen. In Sievers‘ Nähe sind Fahrräder abgestellt, ein paar recht teure Exemplare darunter. Wenn die Leute im Vorbeigehen tuscheln, fragt sich Sievers, ob sie über ihn reden. Ob sie ihn für einen potenziellen Fahrraddieb halten. Gut möglich, dass er sich das alles nur einbildet. Aber, sagt er, so fühlt es sich an.

Hinter Tobias Sievers, 39, liegt ein Leben, das ihm beigebracht hat, immer erst einmal das Schlimmste anzunehmen. Sievers trägt eine Baseball-Cap auf dem Kopf und einen großen Rucksack auf dem Rücken. Er ist rasiert, das Haar kurz geschnitten. Hose, Fleece-Jacke und Weste sehen etwas mitgenommen aus, aber nur ein bisschen. Als seine Verabredung eintrifft, ist er erleichtert. Gemeinsam geht man ins Café. „Ganz ehrlich“, sagt Sievers, „alleine hätte ich mich dort nicht hineingetraut.“ Wegen der Blicke. Und vielleicht auch wegen der Fragen. Was will ein Obdachloser hier?

Tobias will den Neustart

Tobias Sievers hat es satt, sich ausgeschlossen zu fühlen. Er will zurück in das, was man gern ein „normales Leben“ nennt. Die Geschichte von Tobias Sievers ist die Geschichte eines Mannes, der den Neustart will. Diesen Neustart aber, so empfindet er das, macht ihm das System, machen ihm Behörden, Ämter und Unternehmen nicht gerade leicht.

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„Wo soll ich anfangen?“, fragt Sievers, nachdem er Platz genommen hat. Er hat sich entschlossen, seine Geschichte zu erzählen. Ganz offen und ganz ehrlich will er berichten, unter seinem richtigen Namen und mit Foto in der Zeitung. Er fischt einen Aktenordner aus seinem Rucksack. In der Mappe hat er sauber die Korrespondenz mit dem Jobcenter, der SWB und seiner Krankenkasse abgeheftet. Die Papiere enthalten Forderungen an ihn. Es geht um Geld, das er zahlen soll, aber nicht hat. Doch dazu später.

„Ich beginne vielleicht mit dem Tiefpunkt“, sagt er. Und dann erzählt er, wie er sich umbringen wollte. Wie Freunde ihn bewusstlos in seiner Garage fanden und ihn ins Krankenhaus einwiesen. Zum Jahreswechsel 2015/2016 war das. Manchmal stockt seine Stimme, wenn er erzählt, dann werden auch die Augen feucht. Aber da will er jetzt durch. Ein Schluck aus der Cola-Flasche und weiter geht’s.

Die Probleme beginnen ein paar Jahre früher. Bis Ende 2010 hat Sievers als Busfahrer für die BSAG gearbeitet. Als sein Zeitvertrag ausläuft, empfiehlt ihm das Jobcenter eine Stelle in München. Sievers packt seine Sachen und zieht nach Rosenheim. „Mein größter Fehler“, sagt er heute. Die Firma, ein Bauunternehmen, geht nach fünf Monaten pleite. Sievers steht ohne Job da in einer Stadt, in der er niemanden kennt. Also kehrt er zurück nach Bremen.

Zeitarbeit und Studium

Er nimmt einen Kredit auf, um in seiner Heimatstadt wieder Fuß zu fassen. Bett, Sofa, Fernseher, alles hatte er in Rosenheim zurückgelassen, einen Umzugstransporter konnte er schon damals nicht bezahlen. Seinen Eltern, die Geld für ihre Wohnung brauchen, hilft er mit einem Kredit aus, 15.000 Euro sind es, sagt er. Es folgen mehrere Jobs als Zeitarbeiter. Zu der Zeit hat er noch eine kleine Wohnung in Bahnhofsnähe. Die Schulden drücken zwar, aber weil er bei seinen Jobs merkt, dass ihm der Bereich Logistik liegt, fängt er ein Studium an. Er will Logistikmeister werden. Dafür nimmt er das nächste Darlehen auf, diesmal 5000 Euro als Bildungskredit bei der KfW-Bank. Studium und Zeitarbeit, das merkt er schnell, überfordern ihn. Die Firma will, dass er arbeitet. Seine Dozenten wollen, dass er lernt. Heute sagt Sievers, dass er zu der Zeit schon mitten in der Abwärtsspirale steckte. „Mein Gehalt“, sagt er, „war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.“ Im Dezember 2015 gilt dieser Spruch nicht mehr, und er beschließt, zu sterben.

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Jetzt blättert Sievers den Aktenordner auf. Seit Mai 2016 lebt er auf der Straße. Er schämt sich, traut sich mehrere Monate nicht mehr zum Arbeitsamt und beantragt deshalb auch keine Grundsicherung. Ein halbes Jahr später findet ihn sein Vater beim Betteln. Gemeinsam gehen sie zum Arbeitsamt, jetzt beantragt Sievers Grundsicherung, als Postanschrift kann er die Adresse seiner Eltern angeben. „Ich hatte wieder Hoffnung“, sagt er.

Aber es wird nicht besser. In der Zwischenzeit hat die SWB Forderungen für Energiekosten in Höhe von über 7000 Euro für eine Gartenparzelle in Walle geltend gemacht, die Sievers damals noch gehört. Nur kurze Zeit nachdem Sievers sich beim Arbeitsamt zurückgemeldet hat, will auch die Krankenkasse Geld von ihm, rund 6300 Euro. „Jedes Mal, wenn ich gedacht habe, jetzt geht es wieder aufwärts, folgte ein neuer Nackenschlag“, sagt er.

Streit mit der HKK und SWB

Obwohl er obdachlos ist, schafft er es, zweimal einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma zu bekommen. Aber er kommt trotzdem nicht voran. Mit der SWB und der HKK, seiner Krankenkasse, streitet er sich über mehrere Jahre. Die Unternehmen fühlen sich im Recht. Weil Sievers der SWB den Zugang zum Ablesen der Zähler nicht ermöglicht hat, rechnet das Unternehmen mit Schätzwerten. Weil Sievers von Mai bis Dezember 2016 gegenüber der HKK keine Angaben über seine Einkünfte gemacht hat und in dieser Zeit als freiwillig versichertes Mitglied galt, berechnet die Kasse den Höchstsatz. Sievers fühlt sich ungerecht behandelt.

Sein Glück ist, dass es ein Netz von Freunden und Helfern gibt. Manchmal übernachtet er in einer Gartenlaube, manchmal kommt er bei Freunden unter, ganz selten einmal, und wenn dann nur bei schönem Wetter im Sommer, schläft er draußen. Die Notunterkünfte, die es für Obdachlose in Bremen gibt, meidet er. „Keine Privatsphäre“, sagt er, „und zu viel Betrunkene, zu viele Diebstähle.“ Immer an seiner Seite sind Shelby, ein Rehpinscher-Mix, und Lotti, eine Wolfshund-Rottweiler-Mischung. „Für sie“, sagt Sievers, „muss ich funktionieren an 365 Tagen im Jahr, sie halten mich am Leben.“ Und sein Handy. Mit Aldi-Prepaid-Karte und zusätzlichen Akkus stellt es seinen „Kontakt zur Welt“ dar, so nennt er das.

Via Handy kommuniziert er mit den Behörden, Ämtern und Unternehmen. Tatsächlich hat er es geschafft, dass die SWB und die HKK ihre Forderungen reduziert haben. Die SWB hat inzwischen den Stromzähler auf der Parzelle ablesen können und die Berechnungen korrigiert. Rund 2200 Euro ist Sievers nun noch schuldig. Die HKK hat für die Zeit von Mai bis Dezember 2016 ihren Beitrag vom Höchst- auf den Mindestbeitrag gesenkt, etwa 1600 Euro fordert sie jetzt noch. Die SWB empfiehlt Sievers einen Besuch der kostenlosen Energiebudgetberatung, die das Unternehmen gemeinsam mit 19 weiteren Akteuren und der Verbraucherzentrale auf den Weg gebracht hat. Die HKK schlägt eine Teilzahlungsvereinbarung vor, „das ist bereits ab 10 Euro monatlich möglich“, so das Unternehmen auf Anfrage des WESER-KURIER.

Sievers ist stolz, dass er in der Sache hartnäckig geblieben ist. Er weiß aber auch, dass er immer noch mit ein paar Tausend Euro in den Miesen steht. „Wie soll ich unter diesen Umständen einen Neustart schaffen?“, fragt er. Deshalb träumt er manchmal davon, dass er einen Anwalt findet, der Musterprozesse für ihn führt gegen die Behörden, Ämter und Unternehmen, die Geld von ihm wollen, obwohl sie doch eigentlich sehen müssten, dass bei ihm nichts zu holen ist. „So wie mir geht es doch den meisten Obdachlosen“, sagt Sievers, „und wie sollen es diejenigen erst schaffen, die noch länger als ich, die schon 15 oder 20 Jahre auf der Straße leben?“

Im Moment, sagt Sievers, habe er Angst davor, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken. Dabei erwarte er gar nicht übertrieben viel vom Leben. Eine kleine Wohnung vielleicht, einen Job und so viel Geld, dass er sich keine Gedanken darüber machen muss, wie er satt werden und über den Tag kommen soll. „Ist das“, fragt er, „ist das in einem Land wie Deutschland zu viel verlangt?“

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