Für die Daimler-Mitarbeiter im Stammwerk Stuttgart-Untertürkheim war vergangenen Dezember die Nachricht Grund zur Freude: Der Autobauer wird künftig die Fertigung und Montage des elektrischen Antriebsstrangs (EATS) selbst übernehmen. Ab 2024 sind dafür 350 Arbeitsplätze vorgesehen. Lange hatte der Betriebsrat damals mit der Unternehmensleitung darum gerungen.
Die Rede war von „neuen“ Arbeitsplätzen. Aber die Fertigung eines Elektrofahrzeugs benötigt weniger Mitarbeiter als die Fertigung eines Autos mit Verbrennungsmotor. Bisher hatte sich Daimler die Antriebsstränge vom Zulieferer ZF Friedrichshafen liefern lassen. Es sind also Arbeitsplätze zu Lasten von ZF. Dieser Schritt, dass der Autohersteller Arbeit weg vom Zulieferer zurück ins Werk geholt hat, wird kein Einzelfall bleiben. Auch andere Autohersteller werden den gleichen Schritt gehen, um so den Stellenabbau weniger massiv vorantreiben müssen als es jetzt die Zulieferer tun. Dabei handelt es sich um einen Zustand aus Zeiten vor Corona.
Laut Automobilverband VDA beschäftigen die Zulieferer in Deutschland 300.000 Mitarbeiter. In Bremen sind es laut der Wirtschaftsförderung (WFB) mehr als 4000 Beschäftigte. Vergangene Woche erschien es fast so, als wollten sich die Zulieferer bundesweit gegenseitig bei der Zahl derer übertrumpfen, die sie entlassen werden. Bei Mahle soll es weltweit 7600 Mitarbeiter treffen, wie das Stuttgarter am Mittwoch mitteilte – davon 2000 in Deutschland. Derzeit hat Mahle weltweit noch 72.000 Beschäftigte, davon knapp 12.000 in Deutschland. Einen Tag zuvor meldete Continental, der zweitgrößte Automobilzulieferer der Welt, dass Reifenwerk in Aachen schließen zu wollen. Davon sind 1800 Mitarbeiter betroffen.
Als Grund nannte das Unternehmen die Absatzkrise und den Strukturwandel in der Automobilindustrie. Doch auch Elektroautos brauchen Reifen. Deshalb sagte auch Francesco Grioli, Vorstandsmitglied der zuständigen Gewerkschaft Bau, Chemie Energie: „Das ist schlicht Streichen um des Streichens Willen.“ Insgesamt will Continental 30.000 Arbeitsplätze abbauen. Schaeffler will bis Jahresende in Deutschland und Europa weitere 4400 der weltweit insgesamt 84.000 Stellen abbauen.
Die IG Metall Bremen stellte bereits während ihrer Aktionswoche im Juni fest, dass die großen Umstrukturierungsprogramme in den Konzernen weit über Corona hinausgehen. „Diese Entwicklung wird auch Bremer Betriebe treffen“, hieß es von der Gewerkschaft. So ist bei Bosch, dem größten Automobilzulieferer der Welt, in seinem Werk in Huchting bis Jahresende Schluss. Von den 275 Mitarbeitern sollen 35 in der Entwicklung bleiben. Die elektrischen Lenksäulen sollen dann in Ungarn hergestellt werden, wo die Arbeitskosten niedriger sind. Auch das ist ein Aspekt, mit dem die Zulieferer seit Jahren zu kämpfen haben: Die Autohersteller versuchen, den Preisdruck an sie weiter zu geben.
Erst vor wenigen Tagen sagte der Automobilexperte Stefan Bratzel von der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach, der ARD: „Die Corona-Krise hat bestimmte Trends beschleunigt, die aber vorher schon da waren. Schon 2019 wussten wir, dass die Branche Überkapazitäten hat und dass die fetten Jahre vorbei sind.“ Die haben sich durch Corona verstärkt, weshalb nun die Zulieferer erst recht damit zu kämpfen haben.
Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer sagte vor zwei Wochen dem „Business Insider“: „Die großen Zulieferer haben ernste Probleme – mindestens ein Viertel der Kleinen wird bald pleitegehen.“ Bereits schon im Herbst rechnet der Experte vom Motion-Institut der Universität Duisburg-Essen mit ersten Insolvenzen – spätestens, wenn die ersten Geldspritzen durch die Bundesregierung auslaufen. Doch in den kommenden Jahren wird sich laut Dudenhöffer die Zahl der Zulieferer erst recht ausdünnen. Es werde diejenigen treffen, die schon vor der Pandemie strauchelten oder zu stark am Verbrennungsmotor hängen.
Zulieferung für E-Autos zukünftig wichtig
Wer vom Finanzpolster her ein positives Zeugnis ausgestellt bekommt, ist Hella. Das Bremer Werk nahe dem Flughafen feiert im kommenden Jahr seinen 60. Geburtstag. 500 Mitarbeiter produzieren im Werk Sensoren, Aktoren, Waschsysteme, Motorpumpen und Schalter. Aber auch dieses Unternehmen teilte im Juni mit, dass es bis 2023 an seinem Stammsitz in Lippstadt 900 Stellen in Verwaltung und Entwicklung abbauen wolle. Dabei wird es vom „Handelsblatt“ mit einer geringen Verschuldung und einer Eigenkapitalquote von fast 45 Prozent zu den finanziell gesündesten der Zuliefererbranche gezählt. Ähnlich lobend sieht es Moody’s. Aufgrund der aktuellen Situation hatte die Ratingagentur seit Mai verstärkt die Autozulieferer überprüft. Von 62 international agierenden Unternehmen stufte sie 34 herab. Darunter befanden sich Continental, Schaeffler und ZF.
ZF wiederum hat in Bremen-Habenhausen einen wichtigen Logistikstandort. Von ZF Aftermarktet Bremen aus werden unter anderem Lenkgetriebe in 145 Länder verschickt. Die gehen an die ZF-Tochtergesellschaften und Kunden auf der ganzen Welt. 2012 hatte das Unternehmen in diesen Standort 27 Millionen Euro investiert, an dem damals mehr als 200 Mitarbeiter tätig waren. Im April lobte die IG Metall Bremen den Standort unter dem Motto „Das sind die Guten“: ZF Aftermarket gehört zu einem der mehr als 30 Betriebe der Metall- und Elektroindustrie, die das Kurzarbeitergeld aufstocken. Dennoch sagte bereits Ende April die Bremer IG-Metall-Chefin Ute Buggeln, dass man sich auch auf Insolvenzen vorbereiten müsse: „Es wäre unrealistisch, wenn wir uns nicht auch damit auseinandersetzen würden, um als IG Metall den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch in so einer Situation zur Seite zu stehen.“
Die Frage wird also für die Zukunft sein, was die Zulieferer an Komponenten herstellen werden, die auch bei Elektroautos gebraucht werden. So fertigt die Lear Corporation im Gewerbegebiet Hansalinie mit mehr als 1000 Mitarbeitern Autositze für das Bremer Mercedes-Werk. Egal ob C-Klasse oder SLK, die Sitze kommen ebenso aus Bremen. Lear hat einen starken Mutterkonzern im Hintergrund. Ebenso im Industriepark Hansalinie sitzen Wagen Automotive. Sie stellen unter anderem Karosserieteile aus Metall und Leichtbaustoffen her. Insgesamt gibt die WFB die Zahl der Automobilzulieferer in Bremen mit mehr als 30 an, zählt dazu aber auch Betriebe der Autologistik.
Doch bei den Insolvenzen werde es vor allem die kleinen und mittelgroßen Unternehmen treffen. Die Investmentbank FCF Fox Corporate Finance ist auf mittelständische Unternehmen spezialisiert und hatte im Auftrag des „Handelsblatts“ 48 börsennotierte Zulieferer analysiert. Das Ergebnis: Vor allem kleine und mittelgroße Autozulieferer haben in den vergangenen Jahren gigantische Schuldenberge angehäuft, um den Strukturwandel zu finanzieren. Wenn die Aktienkurse weiter sinken, werden die Schulden bald die Marktkapitalisierung um ein Vielfaches übersteigen.